Crime School: Ha! Reingelegt!

Eigentlich sind es ja die Schüler, die mit ihren Lehrern Schabernack treiben, aber die Crime School ist eben eine besondere Lehranstalt, und deshalb darf hier auch mal der Pauker seine Schutzbefohlenen hinter’s Licht führen. Mit lobenswerten pädagogischen Hintergedanken, versteht sich.

Vor einigen Tagen habe ich euch →die erste Seite eines Krimis zu lesen gegeben und um eure Meinung gebeten. Was dem einen oder anderen wie das berechtigte Interesse eines Autors an des Lesers Urteil vorgekommen sein mag, war in Wirklichkeit gleich in vierfacher Hinsicht ein Experiment.

Zum Ersten ging es mir darum zu beweisen, dass eine erste Seite nicht unbedingt Rückschlüsse auf den weiteren Text zulässt.

Zum Zweiten brauchte ich schlichtweg eure Interpretationen der ersten Seite, um die folgenden schreiben zu können.

Zum Dritten ging es bei der Verarbeitung eurer Urteile darum zu demonstrieren, wie ein Autor mit „Material“ umgeht. Er löst es von seinem Urheber und legt es einer fiktiven Person in den Mund, wobei er das nunmehr „anonyme“ Material in eine pointierte, hier sogar überzeichnete Form bringt.

Man sollte meinen, das sei selbstverständlich. Ist es aber nicht. Selbst Leute, die es von Berufswegen eigentlich besser wissen müssten, haben einen sehr merkwürdigen Begriff von „Wirklichkeit“, womit wir fast wieder beim aktuellen Thema der Crime School wären. Wenn ich ein Stück von meinem eigenen Leben oder dem anderer abzwacke und einem fiktiven Leben drantackere, dann hört es auf, zur „empirischen Biografie“ des Urhebers zu gehören. Der „kleine blonde Mann im orangenen Anorak“ ist nicht mehr mein kleiner, blonder, einen orangenen Anorak tragender Freund X.

Ja, und zum Vierten habe ich die Möglichkeiten des Mediums genutzt und wenigstens den Anfang eines „interaktiven Krimis“ geschrieben. Es dürfte der erste sein, bei dem die Beiträger nichts von ihrer Funktion wussten, und das ist doch auch eine historische Leistung, oder? Und ihr wart mit dabei!

Bevor ich nun die zweite Seite des Romans vorstelle (schon gut, ihr Erbsenzähler, eigentlich sind es dreieinhalb), noch ein paar Bemerkungen zu euren Kommentaren.

Sie haben mich überrascht und bestätigen meine These von der Vielstimmigkeit eines Textes nicht nur als einer Binneneigenschaft desselben, sondern auch als von den Lesern erzeugten, vom Autor nur begrenzt zu beeinflussenden Deutungsebenen.

Zum Beispiel wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass gleich der erste Satz als „unlogisch“ empfunden werden könnte. Er ist hinsichtlich seiner Kausalbehauptung ungewöhnlich, zugegeben. Weil einer sich schon in der Schule nicht für Biologie interessiert hat, interessiert ihn auch die Leiche seines Vaters nicht mehr oder weniger als eine beliebige andere. Will sagen: Für diese Person war die Bindung an den Vater eine rein biologische, und mit Biologie hatte er eben nichts am Hut. Dagegen kam jedoch der Einwand, es müsse gerade umgekehrt sein. Nur jemand, der sich für Biologie interessiere, blende die Bindung an den Vater so radikal aus, dass er dessen Leiche wie jede andere betrachte. Hm. Nicht unlogisch, wie ich zugeben muss.

Interessant auch die Interpretation der „Orgasmusszene“. Den Mann erinnert sein Orgasmus an die selige Jugendzeit, wo man solches noch manuell erzeugen musste, ständig in der Angst, vom Vater erwischt zu werden. Im Klartext: Der Mann ist kein Päderast, der sich von einem Kind einen runterholen lässt. Dennoch wurde die Passage so aufgefasst, was damit begründet wurde, einem so „kaputten Charakter“ traue man auch päderastische Neigungen zu. Eine völlig korrekte Interpretation, die nur einer anderen Spur folgt als der, die der Autor gelegt hat, ansonsten in ihrer Assoziationsqualität aber völlig legitim und nachvollziehbar ist.

Jedenfalls vielen Dank für eure Mitarbeit. Die beiden besprochenen Auslegungen von Textstellen finden sich, nebst einigen, die sich das arme Autorenhirn selber ausdenken musste, auf der „ominösen zweiten Seite“. Und ich wiederhole: Es handelt sich dabei um entpersonalisierte „Sinnskelette“, die fiktiven, zufälligerweise nicht sehr sympathischen Personen in den Mund gelegt und dort pointiert wurden. So. Und hier ist sie endlich: die Fortsetzung von Seite 1 —

***

Männer, deren Hälse von korrekt geknoteten Krawatten stranguliert wurden, versetzten Ralf Dörke in eine gelinde Panik. In seiner Vorstellung sah er die mit Sauerstoff dramatisch unterversorgten Gehirne der Schlipsträger als fast unbewohnbares Terrain der Gedanken, kleine niedliche Figuren mit blauangelaufenen Köpfen, die verzweifelt nach Luft schnappten und kurz vor ihrem Tod in die gnädigen Armen der Ohnmacht sanken.

Dörke fand diese Vorstellung, Gedanken seien Männchen, nicht weiter merkwürdig; unterließ es jedoch, anderen davon zu erzählen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Sein Gegenüber schnaufte nervös, was nicht allein der Krawatte anzulasten war, und diese Nervosität beruhigte Dörke, der nun die Augen öffnete und mit gelassener Stimme zu sprechen begann.

„Ich lese Ihnen jetzt einen Text vor, Herr Neuenberg. Nach manchen Sätze stelle ich Ihnen Fragen, und Sie antworten mir bitte frei heraus. Wenn ich dann den Text zu Ende gelesen habe, erzählen Sie mir, was Sie davon halten. Sind Sie bereit, Herr Neuenberg?“

Der Gefragte nickte stumm und schickte zur Bekräftigung ein Brummen hinterher. Dörke räusperte sich dezent, nahm das Blatt Papier, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, in die Hand und las:

„Schon in der Schule hatte er sich nicht für Biologie interessiert, und so schaute er auf die Leiche seines Vaters wie auf jede andere.“

Kurze Pause und leicht den Kopf heben. Neuenberg gab den Nachdenklichen, eine Rolle, für die ihn jede Provinzbühne geschasst hätte.

„Wie verstehen Sie diesen Satz, Herr Neuenberg?“

Der Gefragte lächelte unsicher.

„Nun ja. Ich meine: Woran ist er denn gestorben, der Vater?“

Ralf Dörke seufzte still in sich hinein. Das war vertane Zeit, und er hatte es von Anfang an gewusst. Noch einmal blickte er schaudernd auf das Schlachtfeld in seiner Phantasie, dessen Boden übersät war mit den Leichen der Gedanken, denen man selbst im Gehirn eines Magnus Neuenberg, 52, höherer Angestellter, Import/Export, ein besseres und längeres Leben gegönnt hätte.

Genau 642 Mal schon hatte er diesen Satz vorgelesen und seine Gegenüber darum gebeten, ihn zu interpretieren. Nur die wenigsten hatten lakonisch die Schultern gehoben und fallen lassen, ihre Antwort mit „also“ oder „na klar“ eingeleitet und dann kurz erklärt, der Satz besage eben lediglich, dass dieser „Er“ keine Verbindung zu seinem biologischen Urheber gehabt habe und nun, an seiner Leiche stehend, zu keinen Emotionen fähig sei. Manche fanden es gewagt, auch irritierend, dass die Qualität dieses sehr intimen Verhältnisses zwischen Vater und Sohn mit des letzteren schulischer Abneigung in Verbindung gebracht wurde. Andere sahen genau darin die Stärke des Satzes.

Eine zweite Gruppe, die Dörke die „Klugscheißer“ nannte, zweifelte an der Logik des Satzes. Nur wer sich für Biologie interessiere, betrachte doch gerade eine Leiche wie jede andere, weil nicht der erbtechnische Zusammenhang im Vordergrund stehe, sondern das Interesse an der Leiche an sich, die man kalten Blutes begutachte. Und überhaupt: Wolle er, Dörke, etwa behaupten, ein Vater-Sohn-Verhältnis ließe sich auf seine biologische Komponente reduzieren?

Abgesehen davon, dass Dörke nicht der Autor des Textes war, den er zu Beginn eines jeden Gesprächs mit Bewerbern vorzulesen hatte, störte ihn an solchen Verdikten die Endgültigkeit, mit der sie formuliert wurden. Auch mit den Klugscheißern würde es nichts werden, das wusste er in diesem Moment, da sie ihm triumphierend und anklagend, auch reichlich dreist ins Gesicht blickten und darauf warteten, er möge mit der Lesung fortfahren.

Gelegentlich kam es zu unerwarteten Gefühlsausbrüchen. Gestandene Männer erinnerten sich an ihre eigene Schulzeit, daran, wie auch sie Biologie, ja, darüber hinaus Physik, Chemie und Erdkunde nicht gemocht hätten, jetzt aber, genau jetzt, wo man sich so gegenübersitze, wohlbestallte Biochemiker wären, ein ungeliebter Beruf, und eigentlich sei nur die Frau daran schuld, die Frau mit ihrer Sucht nach Materiellem, ja, überhaupt…

Ganz ganz selten nur kam eine Antwort, bei der es Dörke warm ums Herz wurde. „Schöner Satz. Mal warten, wie es weitergeht.“ So etwas zum Beispiel. Auch: „Gewagter Zusammenhang. Außerdem liebe ich Krimis, die schon gleich mit einer Leiche beginnen.“ Gut. Daraus konnte etwas werden, und gefällig betrachtete Dörke seine Probanden und stellte fest, dass sie keine Schlipse trugen.

Sich von der Betrachtung der Neuenberg’schen Physiognomie lösend, fuhr Dörke nun mit seiner Lesung fort.

„Eine subtile Rache für all die Sonntagnachmittage der Jugend, an denen der Vater seinen speckigen Geldbeutel hervorgekramt hatte, um dem Sohn die kupfernen Brosamen in die bittende Hohlhand zu zählen, dabei sich seiner Allmacht als Hüter des Schatzes wohlbewusst.“

Er machte wieder eine kleine Pause, doch noch bevor er seine Frage stellte, stöhnte Neuenberg höchst unlustig: „Die Kinder heutzutage bekommen viel zu viel Taschengeld. Ich meine – sie sollen ja das Haushalten lernen – aber man lernt immer am Besten dann, wenn Mangel herrscht. Denken Sie nur an die Nachkriegszeit.“

Dörke nickte resigniert. Er erhöhte das Lesetempo, stellte keine Zwischenfragen mehr und schloss mit der sehr halbherzigen Aufforderung:

„Und was sagen Sie zu diesem Text?“

Quälend lange überlegte Neuenberg, bis er sich schließlich in vorschriftsmäßige Sitzhaltung brachte, ein souveränes Lächeln versuchte und antwortete:

„Was Sie wollen.“

„Was ich will?“, fragte Dörke, etwas verwirrt.

„Natürlich. Meinen Sie etwa, ich wüsste nicht, dass das alles nur Humbug ist, was Sie da machen? Sie wollen mich für eine Literatursendung im Fernsehen casten. Wunderbar. Ich soll den im Publikum spielen, der eine Zwischenfrage stellt. Bitteschön! Ich sehe seriös aus! Als würde ich jeden Tag ein ganzes Buch lesen. Ich kann mich ausdrücken. Ich kann die Frage, die Sie mir geben, auswendig lernen. Was meinen Sie denn, was ich so alles im Kopf haben muss? In der Import / Export – Branche, mein Lieber!“

„Nun, nun“, stotterte Dörke, „das ist eine hochinteressante Reaktion. Ich werde Sie vormerken.“

Neuenberg lehnte sich lächelnd zurück und zwang seinen Drehstuhl zu einem hässlichen Geräusch.

„Das ist nicht mein erstes Casting“, erklärte Neuenberg. „Ich weiß genau, dass es nur auf den Eindruck ankommt, aber nicht auf den Inhalt. Ist doch eh alles abgesprochen. Nicht wahr? Das sehe ich doch richtig?“

Und fuhr, ohne eine Antwort zu erwarten, fort: „Spätestens bei dieser Päderastenstelle war mir die Sache klar.“

„Welche – Pädera…“

„Na, können Sie noch mal vorlesen? Wo er sich von dem Jungen einen runterholen lässt. Nachdem er zuerst zu dieser Nutte gegangen war, die ihn abagezockt hat.“

Dörke hob das Blatt abermals vom Tisch. Ihm war schlecht. Furchtbar schlecht, und zum Weinen war ihm außerdem. Er würde sich kein Brot machen, und der Fernseher bliebe auch ausgeschaltet. Stockend und mit viel zu hoher Stimme las er:

„Ein jämmerlicher Orgasmus, wie von der Hand eines angstvollen Kindes gemacht, das damit rechnet, jeden Moment öffne sich die Tür und die Katastrophe strecke in Gestalt des Vaters ihren Kopf ins Zimmer. Er legte die vier Scheine auf die Bettkante und verschwand.“

„Mit dem Vater komme ich in dieser Szene nicht ganz klar. Der ist doch tot, oder? Und er gibt dem Jungen also auch vier Scheine? Wie der Nutte?“

Neuenberg wog bedenklich sein brütendes Haupt, schüttelte es schließlich, so dass die Leichen seiner Gedanken aus ihrer Totenruhe gerissen wurden.

„Komischer Text. Aber is‘ ja nicht so wichtig. Sie wollten nur mal sehen, ob ich da nicht durchdrehe, wenn ich was von moderner Literatur höre, die kein Mensch versteht. Test bestanden, Herr …äh…“

Dörke hatte begonnen, seine Unterlagen in die Aktentasche zu packen. Er musste hier raus. Es wurde überhaupt immer schlimmer, von Tag zu Tag, von Gespräch zu Gespräch. Er war nicht für den Außendienst geschaffen, und die Erinnerung an den Morgen, als er sein Büro betreten hatte, um einige Tests der Vorwoche auszuwerten, ließ ihn wehmütig werden, wehmütig und zornig.

Sein Büro lag im 3. Stock eines unscheinbaren Hauses und gehörte zu einem Unternehmen, dessen Firmenschild das dritte von unten beziehungsweise das 2. von oben rechts neben der Eingangstür war. Da jede Firma eine ganze Etage gemietet hatte und insgesamt vier Firmen in dem Haus untergebracht waren, besaß das Haus somit vier Stockwerke. Das stimmte. Nur gab es leider die drei anderen Firmen nicht, und auch der Geschäftszweck des einzigen real existierenden Unternehmens war ein gänzlich anderer als auf dem Firmenschild ausgewiesen.

***

So. Und wie geht’s weiter? Welchen Geschäftszweck hat diese Firma? Überlegt es euch und postet, wenn ihr wollt, hier. Wer der richtigen Lösung am nächsten kommt, kriegt ein Gratisbuch.

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