CrimeSchool: Repetitorium

Nein, diese Rasselbande gönnt einem alten Mann keinen freien Tag mehr! Zuerst macht mir Schüler Bernd Lust auf James Ellroy, den ich jetzt auch noch lesen muss, dann erwähnt Schüler Matthias so ganz nebenbei Chuck Palahniuks Roman „FLUG 2039“ (kennt jemand das Buch? Ist das ein Krimi / Thriller? Lesenswert?), der eine interessante Zeitstruktur aufweise – und Schüler Ludger macht einem sowieso ständig Appetit auf → „realitätstüchtige“ Bücher , die nun gar den Wahlkampf in NRW beeinflussen können. Für mich armen Pauker heißt das: Überstunden machen (die zahlt mir kein Kultusministerium) und einige Dinge repetieren.

Ein von mir in der 11. Lektion eingeführter Begriff muss zunächst etwas präziser formuliert werden. Wenn ich „Lesezeit“ schreibe, meine ich selbstverständlich nicht die Zeit, die jemand braucht, um ein Buch zu lesen. Genauer müsste es wohl „Lese-Zeit-Richtung“ heißen. Sie beschreibt die an das Medium Buch gekettete Art, WIE ich lese: von der ersten bis zur letzten Seite.

Wir haben uns dafür interessiert, weil genau diese Lese-Zeit-Richtung in Hyperlinkkonstrukten außer Kraft gesetzt wird, und meine These war nun die, dass so etwas bei Nicht-Krimis funktionieren kann, nicht aber bei Krimis.

Das hat zunächst nichts mit der Erzählzeit zu tun, also der Art, wie ein Autor innerhalb seines Textes mit der Zeit spielt. Und natürlich ist es auch richtig, wie Schüler Bernd bemerkt, dass es Krimis gibt, deren Chronologie „haschiert“ ist, ebenso wie viele Nicht-Krimis ohne Verlust nur von der ersten bis zur letzten Seite genossen werden sollten:

„? : Krimis kann man parallel zur Zeit erzählen, es gibt sie chronologisch oder zeitbezogen haschiert und man kann das Ende an den Anfang stellen. Die einzige Chronologie die relevant ist, ist die des Erzählers. Ein Krimi – wie viele andere Bücher aller Gattungen auch !!! – erhält seine(n) Spanunngsbo(e)gen, durch die vom Erzähler gewählte Reihenfolge der Präsentation.“

Doch es gibt Ausnahmen: Williiam S. Burroughs wäre eine, der mit seiner Cut Up – Technik Zeit- und Storyabläufe buchstäblich auseinander geschnitten hat (und, nota bene, häufig Elemente des Kriminalromans verarbeitet). Joyce wäre unbedingt zu nennen, auch Jean Paul. Ein merkwürdiger Fall ist Thomas Manns „Zauberberg“. Die ersten Seiten muss man wirklich auch als erstes lesen (der Protagonist Hans Castorp trifft im Sanatorium ein und verliert ganz schnell jegliches Gefühl für die Zeit), doch dann ist Kreuz- und Querlesen möglich. Ja, und am Ende dieser Lesezeit steht der Schluss, wenn Castorp brutal in die „Echtzeit“ zurückgerissen wir und in den Wirren des Ersten Weltkrieges verschwindet.

Kreuz und quer lesen ist also möglich – aber nicht im Krimi, wenn er Krimi bleiben will. Und das ist merkwürdig. Und das muss untersucht werden. Hängt es mit der erzählten Zeit und ihrer Chrono-Logik zusammen? Mit Spannungsbögen? Suspense? Und – könnte man diese Genreeigenart überwinden, vielleicht überlisten? Spannend. Das ist fast selbst ein richtiger Krimi, und eventuell spiele ich den Superdetektiv oder den Bösewicht oder, steht zu befürchten, „die lustige Figur“, sprich den Depp.

Ist euch übrigens schon einmal aufgefallen, dass die Art und Weise, wie wir unseren Schulunterricht gestalten – als work in progress gewissermaßen, mit Versuchsreihen, an deren Ende Thesen bestätigt oder entkräftet werden, SO im Medium Buch gar nicht möglich wäre? Nur im Internet, wo Autor und Leser in „Echtzeit“ dialogisieren?

Zeit im Krimi und Nichtzeit im Krimi. In der nächsten Lektion beginnen wir mit der praktischen Analyse, wobei wir durchaus die in den Vorgängerlektionen untersuchten Texte (S / W, Nabokov, ja, auch den guten alten „Stopfkuchen“, an dem sich Schüler Ludger momentan abplagt) noch einmal unter dem besonderen Aspekt der sich formenden Zeit heranziehen wollen. Montag. Keinen Tag früher.

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