Die logische Welt des Frank Heller

Frank Hellers „Marco Polos Millionen. Psychoanalytischer Kriminalroman“, 1928 erstmals veröffentlicht und im folgenden Jahr als 6. Band der „Roman-Rundschau“ neu aufgelegt, ist das Musterbeispiel eines „Schachromans“. Das Gute macht seine Züge, das Böse reagiert – oder umgekehrt. Und doch ist es, um es mit → Franz Blei zu sagen, ein Krimi „mit albernen Voraussetzungen“. Genau das macht ihn stark.

Held des Buches ist Herr Dr. Joseph Zimmertür, ein Psychoanalytiker aus Amsterdam. In einer öffentlichen Badeanstalt macht er die Bekanntschaft des Astrologen Signor Donati. Und wie es eben so ist, wenn Psychoanalytiker und Astrologe aufeinandertreffen – sie streiten sich darüber, wessen Methoden die zuverlässigsten sind. Und treffen eine Vereinbarung. Jeder der beiden wird seinen nächsten Patienten zum Vertreter der anderen Fakultät schicken und „analysieren“ lassen. Irgendwie wird man dann sehen, wer recht hat.

Zimmertürs nächste Patientin ist das bezaubernde Fräulein Sandra di Passano, Grafentochter aus Venedig, leider verarmt und mit unorthodoxen Ansichten zu Besitzverhältnissen. Sie schildert Zimmertür einen immer wiederkehrenden Traum und erwähnt, auf Nachfrage, sie habe eine große Abneigung gegen Gänseleberpastete aus Straßburg. Zimmertür grübelt noch und schickt seine Patientin erst einmal zu Donati, damit dieser in die Zukunft der jungen Dame schauen möge.

Bald darauf erfährt Zimmertür, dass die Gräfin Passano und der Astrologe überstürzt Amsterdam verlassen haben. Er schöpft einen unangenehmen Verdacht. Hat Donati in der Zukunft der jungen Dame etwas „gelesen“, dass ihn dazu ermunterte, Hals über Kopf die Stadt zu verlassen? Konnte er ihr etwa „das Idealhoroskop“ stellen, welches perfektes Glück und großen Reichtum vorhersagt? Zimmertür zaudert nicht. Er muss selbst das Geheimnis ergründen und stützt sich dabei auf die Äußerungen der Patientin. Abneigung gegen Gänseleberpastete aus Straßburg? Dann muss DORT der Schlüssel zu allem liegen. Also auf nach Straßburg! Herausfinden, wo die Familie damals, als Sandra noch ein Kind war, wohnte, was der Vater so trieb…. und so weiter. Der Fall nimmt Fahrt auf, ein finsterer Bursche erscheint auf der Bildfläche, Zimmertür gerät in Bedrängnis, muss vor der Polizei fliehen und ist seinerseits hinter dem Bösewicht her, den es schnurstracks Richtung Venedig zieht, wo dann die ganze Romanmannschaft wieder zusammentrifft und das Geheimnis aufdeckt, das, siehe Titel, tatsächlich etwas mit „Marco Polos Millionen“ zu tun hat. Ein Schatz, ein dramatisches Finale – kein Mord übrigens im ganzen Roman – Happyend.

Das ist einfach witzig erzählt, spannend konstruiert – aber dennoch: Was soll der Leser davon halten? Der heutige Leser, wollen wir präzisieren, der sofort seinen Fluch „Das ist ja gar kein wirkliches Leben!“ auf den Lippen hat? Denn so ist es. Die Geschichte wird durch ein Horoskop und eine Traumdeutung angekurbelt, sie ist logisch, soweit etwas aus solch dubiosen Wurzeln überhaupt logisch genannt werden kann. Reines Schach. Schlussfolgerungen aus Schlussfolgerungen aus Schlussfolgerungen. Aber die Basis eben: sehr umstrittene Analysemethoden, nichts von alledem, was wir „Wirklichkeit“ nennen und von einem Kriminalroman selbst dort verlangen, wo er diese Wirklichkeit nicht thematisiert. Agatha Christies Wirklichkeit etwa mag uns nicht weniger dubios erscheinen als die Hellers, aber sie ist bodenständiger, nachvollziehbarer als die des Schweden Heller.

Was aber lässt „Marco Polos Millionen“ dennoch zu einem Lesevergnügen werden, selbst dann, wenn man den teilweise absonderlichen Humor des Buches und Hellers unbestreitbare dramatische Finesse außer acht lässt? Es ist die Atmosphäre des Buches, seine INNERE Logik. Die Voraussetzungen mögen in der Tat „albern“ sein, aber sie werden logisch durch die Art und Weise, wie Heller daraus eine Geschichte strickt. Niemand muss am Ende von der Wissenschaftlichkeit von Psychoanalyse und Astrologie überzeugt sein. Aber man wird die Story als solche nicht „unrealistisch“ nennen können. Sowohl Zimmertür als auch sein sterndeutender Konkurrent berufen sich auf Fakten – auf IHRE Fakten. Sie sind nicht besser und nicht schlechter als andere, denen „Nachvollziehbarkeit“ zu bescheinigen wir weit eher geneigt sind. Somit bildet der Roman doch Wirklichkeit ab, die Wirklichkeit der Erkenntnisprozesse nämlich, die höchst subjektiv sind, nicht selten auf Zufälligkeiten basieren, Annahmen, die falsch sein mögen, aber dennoch zum Ziel führen.

Heller übrigens, Schwede wie gesagt, als junger Mann mit dem Gesetz in Konflikt geraten, jahrelang auf der Flucht, war einer der beliebtesten Kriminalautoren der Weimarer Republik. Er wurde 1886 als Gunnar Serner geboren und starb 1947 auf der dänischen Insel Bornholm an den Folgen eines Fahrradunfalls. Bücher von ihm hält die → Achilla Presse bereit, leider nicht „Marco Polos Millionen“ und andere Abenteuer des Psychoanalytikers Zimmertür. Die suche man sich antiquarisch zusammen.

7 Gedanken zu „Die logische Welt des Frank Heller“

  1. Und wenn du noch die anderen Zimmertür-Titel nennen tatest… (ich finde nur „Die Diagnosen des Dr. Zimmertür“)

    dann jauchzte dankbar:
    Georg

  2. Siehst du, lieber Georg, da sind wir schon beim Thema „Krimitradition“. Ich kenne auch nur die beiden Zimmertürs, habe aber mal gelesen, dass es noch mehr geben soll. Leider weiß ich nicht, welche der Hellerkrimis noch psychoanalytisch sind. Aber ich guck trotzdem mal, ob ich noch was finde…

    bye
    dpr

  3. Ja, Krimitradition. Da ist es wohl noch schlimmer als in der Literaturgeschichte überhaupt.

    Das fiel mir als schon etwas älterem Leser wieder auf, als vor ungefähr einem Jahr das Buch „Nichts in Sicht“ von Jens Rehn neu erschien. Das habe ich vor etwa 30 Jahren schon mal gelesen und war begeistert, da kam es gerade bei Luchterhand als Taschenbuch raus, und vor vielen vielen Jahren, in den fünfziger Jahren (da habe ich es nicht gelesen, nur um das mal klarzustellen) war es zuerst erschienen. Und jetzt entdeckten ganz viele Kritiker es wie eine Neuerscheinung. So geht es mit vielen Romanen. Die Deutschen haben ja 1933 eine ganze Literatur-Tradition abgebrochen, die wir auch nicht mehr kennen. Und immer wieder tauchen Bücher auf, die uns heute wieder was sagen, die auch alle vergessen waren. Selbst heute ganz berühmte waren nach ihrem Erscheinen nicht sehr bekannt. Robert Walser und Franz Kafka haben sich nicht besonders gut verkauft.

    Literaturgeschichte ist eben eine eierige Angelegenheit und von vielen Zufällen und auch einigen Intrigen abhängig (z.B. die Romantiker gegen Wieland etc.).

    Beim Krimigenre sieht es, genretypisch, noch gruseliger aus: Da gibt es ja nicht einmal eine ordentliche Literaturgeschichte (wir alle setzen unsere Hoffnungen auf dich) oder eine ordentliche Bibliografie oder genügend Einzeluntersuchungen zu genügend Aspekten. (Oder? Dann her damit.) Und so muss man auch immer wieder rumeiern und ist froh über kundige Antiquare und ältere Buchhändler (früher) und das Internet (heute), die Auskunft geben können. Vielleicht wächst dann auch mal zusammen, was zusammengehört. Und auch da sind Traditionen unbekannt geblieben oder aus diesen oder jenen Gründen abgebrochen (siehe Holtei, vom dem der Nachwortschreiber, entgegen privater Äußerungen behauptet, er „atmet in seiner düsteren Psychologie die längst verwehte Luft der Romantik, ohne deren Gesetze zu befolgen“). Allerdings. Ich hab ihn übrigens jetzt gelesen und kann ihn nur dringend empfehlen. Auch wenn leider keine „Stellen“ drin sind.

    Aber ansonsten frage ich mich, was die verbeamteten Germanisten alle machen, z.B. Prof. Dr. Vogt? Wäre das nicht ein schönes Projekt? Ich sehe schon die Dissertationen und Institutspublikationen. Aber wie sagte er mal so schön: „Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Krimi ist nicht sehr karrierfördernd.“ /aus dem Gedächtnis zitiert).

    So, in der Hoffnung auf baldige Abhilfe
    beschließt diesen längeren Exkurs jetzt:
    Georg

  4. Ach ja, lieber Georg,

    du hast ja so recht in allem. Und die Leute wissen auch nicht, was sie verpassen! Den Holtei, klar, denn kennt man jetzt in Krimiseiten-Kreisen. Aber schon mal was von Emilie Heinrichs gehört? Nee? Nu, wenn ich Arno Schmidt wäre, würde ich über die ein Nachtprogramm machen, so „Vorgeschichte der Insel Felsenburg“, you know what I mean.
    Karrierefördernd: nein. Gottlob: Ich will ja auch gar keine machen. Aber ein bissel was anschicken: das schon noch.

    bye
    dpr

  5. Hiermit bestelle ich dein Buch über Emilie Heinrichs. Wann erscheint es?

    an die Arbeit, fordert:
    Georg
    (der sogar 500 Seiten Fraktur lesen würde. 550? Weiß ich nicht…)

  6. 550. Wird aber neu gesetzt. Dann etwa. 350. Erscheinen? Tja, wenn sich genügend Interessenten meldeten? Etwa einer von einer Million hierzulande. Würde schon reichen. Oder ist das jetzt schon mehr als die dritte Wurzel?

    bye
    dpr

  7. Über. Nicht von. Das sowieso. Das Buch über…

    wünscht sich:
    Georg
    (der heute den ganzen Tag Fahrrad fahren war, bis nach Frankreich rein: war das schön!)

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