Carl Hiaasen: Unter die Haut

Die Überzeichnung ist ein Mittel, Handlung und Personal zu verfremden, zu verzerren, um ihren wahren Charakter unter der Maske erkennbar zu machen. Etwas überzeichnen heißt also: etwas enthüllen. Indem etwa Personen so agieren, wie sie ganz bestimmt nicht agieren, zeigt man, wie sie agieren. Die Personen werden komisch, Ereignisse spitzen sich zu, Geschichten taumeln in der Aberwitz und zerbrechen dort zur Nüchternheit. Eine sehr theoretische Sache, denkt man, ja, ohne Zweifel, denn in der Praxis gelangt die Überzeichnung zumeist nur bis zum Aberwitz, bleibt die Verzerrung Verzerrung, das Lachen darüber das Lachen darüber. Eine der großen Ausnahmen ist Carl Hiaasen.

Der Ermittler Mick Stranahan hat sich, nachdem er einen korrupten Richter getötet hat und ins Visier seiner auf Rache sinnenden Freunde geraten ist, in ein Holzhaus auf Stelzen irgendwo am Strand irgendwo abseits von Miami zurückgezogen. Er lebt von seiner Pension und ansonsten recht unspektakulär in den Tag hinein. Fünf Menschen hat er getötet, fünfmal war er verheiratet: Was schlimmer war, weiß er nicht. Die Tötungsbilanz wird im Verlauf von „Unter die Haut“ beträchtlichen Zuwachs erhalten (die der Ehen nicht), das ist Mick klar, als ein Unbekannter versucht, ihn zu töten. Der Anschlag misslingt, der tote Killer landet im Meer und Mick macht sich auf die Suche nach Auftraggeber und Motiv.

Das Personal, das nun auf der Bildfläche erscheint, ist mehr als bizarr: Ein Schönheitschirurg, besser: ein Metzger, der sich vor der Vergangenheit fürchtet, ein Talkshowmaster, der sich gerne verprügeln lässt, samt smarter Produzentin, ein weiterer Killer mit unübersehbaren Hautproblemen, eine intrigante Exfrau unseres Helden, eine nicht weniger intrigante Ex-Krankenschwester des von seiner Pfuscherei blendend lebenden Schönheitschirurgen, Micks Schwager, ein auf Schadensersatzfälle spezialisierter, mehr als windiger Advokat. Dazu in tragenden Nebenrollen allerhand Un-Menschliches: eine Häckselmaschine (man ahnt, wozu sie dienen wird), ein Barracuda (man ahnt, welche Rolle ihm zugedacht ist), ein Schwertfisch, der als Trophäe an der Wand hängt (man ahnt, welchen Zweck das Schwert zu erfüllen hat). Und dann geht es los. Die Ereignisse überschlagen sich, Schönheitschirurgie, Rechtswesen, Fernsehen, Polizei (hier gibt es grenzenlos gute Beamte und grenzenlos korrupte) beschleunigen auf 180 aus dem Stand, ein blutiger Scherz jagt den anderen, stirbt ein Idiot, steht der nächste schon bei Fuß. Überzeichnung eben; Verfremdung total.

Aber: Je irrwitziger die Situationen werden, desto logischer entwickelt sich die Handlung. In seinem Kern ist „Unter die Haut“ nämlich ein Krimi und bleibt ein Krimi, die Tragik wird nicht weggelacht, sie bleibt Tragik, das schier Unmögliche der Verwicklungen, das Unfassbare der Charaktere kratzt allmählich die Maske von der Wirklichkeit, bis sie vor uns liegt in ihrem Gewöhnlichen, das unmöglicher, unfassbarer, grotesker ist als die Überzeichnung selbst.

Und es gibt großartige Einzelszenen, wie immer bei Hiaasen. Ein Höhepunkt diesmal: Mick Stranahan beweist einer schönen Nackten, dass ihre frischoperierten Brüste gleichmäßig in die Welt hineinragen. Er legt einfach die Wasserwaage an.

Noch einmal Überzeichnung, noch einmal Komik: Es gibt kaum etwa Effektvolleres, um damit die Wirklichkeit zu entblößen. Lachen hat eine reinigende Wirkung? Gewiss. Sie säubert die Realien vom Dreck, der uns zu blenden versucht.

Carl Hiaasen: Unter die Haut. 
Goldmann 2006
(Originaltitel „Skin Tight“, 1989, deutsch von Michael Kubiak).
510 Seiten. 8,95 €

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