Littell-Stammtisch, kurzer Nachklapp

Der Fall Littell ist gelöst. Bis auf eine Kleinigkeit, ein Rätsel, das sich der Rezensent selbst gestellt hat, weil er eine Frage nicht beantworten kann. Diese Frage: Warum habe ich „Die Söhne Abrahams“ nicht verrissen?

Denn ich hätte es tun müssen. Nicht aus Solidarität mit Georg, aber doch aus einem Grund, der dem Georgs Verriss zugrunde liegenden sehr ähnlich ist. Die Geschichte der beiden Extremisten, die Brüder sind. Das ist wirklich eine Botschaft mit dem Holzhammer, und normalerweise reagiere ich darauf mit einer gewissen Aggression. Und nichts kann mich hernach beruhigen. Oder so: Das ist, als würde man bei der Fahrprüfung zwanzig Minuten lang vorschriftsmäßig fahren und dann beim finalen Einparken das Nebenauto rammen. Finito. Keine Chance mehr.

Aber merkwürdigerweise habe ich Littell eine Chance gegeben. Ja, noch merkwürdiger: Es gibt keinen Erzählstrang in diesem Buch, den ich wirklich als für sich gelungen bezeichnen würde. Und die Sprache? Vergessen wir die. Littels kanns besser. Die Dramaturgie? Solide, vorhersehbar. Also WARUM keinen Verriss?

Ganz einfach (naja, so einfach natürlich nicht): Ich bin der Überzeugung, dass man manche Sachen nur dann gut beschreiben kann, wenn man sie schlecht beschreibt. Bis zur „Kenntlichkeit entstellen“ heißt das (siehe →hier), aber in einem sehr radikalen Sinn, der die Wirklichkeit ihrer potentiellen Kunstgestalt entkleidet. Jedes Thema, das wissen wir, kann literarisch überhöht werden, „große Literatur“. Alles: Krieg, Folter, Kindsmissbrauch, politisches Überleichengehen, die täglichen Sauereien der ökonomischen Diktatoren. Gerade Spannungsliteratur kann das und soll das auch.

Ich wette um meine 100 liebsten Bücher, dass Littell, als er sich vornahm, ein Buch über Palästina / Israel zu schreiben, genau vor dieser Frage stand: Ein literarisch wertvolles, „saftiges“ Buch oder ein zutiefst banales? Hätte er sich für den ersten Weg entschieden (er hätte es ohne Zögern im Wissen um seine schriftstellerische Potenz tun können), wäre ihm wohl nicht die Idee gekommen, das Terroristenthema in den Mittelpunkt zu stellen. So etwas MUSS scheitern; vielleicht (sicherlich) auf hohem Niveau, aber es muss scheitern, weil solche belletristisch verpackten Binsenweisheiten immer scheitern müssen (es sei denn, man heißt Thomas Mann und schreibt gerade den „Zauberberg“; aber das wäre eine andere Baustelle).

Nein, er wäre anders vorgegangen; mitten hinein ins Volk. „Die Söhne Abrahams“ weist eine Konstellation auf, die bezeichnenderweise von den RezensentInnen des Stammtischs nicht oder doch nur am Rande erwähnt wurde, weil sie tatsächlich in den Randgebieten des Buches angesiedelt ist und ihr Potential nur erahnen lässt: das Private und der Verrat. Wir begegnen einem jungen palästinensischen Paar, er Terrorist, sie seine Unterstützerin. Um ihn zu fassen, nehmen die Israelis sie gefangen und schaffen es tatsächlich auf eine äußerst gemeine Art, dass sie ihn „verrät“. Mit tragischen Folgen für beide. DAS wäre ein Ausgangspunkt gewesen, eine belletristisch viel fruchtbarere Landschaft als der ideologisch-religiöse Konflikt.

Aber Littell hat sich für den anderen, den sehr viel unbequemeren Weg entschieden und deshalb habe ich dieses Buch gezielt unter dieser Prämisse gelesen. Man muss das nicht. Man muss nicht einmal dran glauben, dass manche Sachen wirklich so abgrundtief banal sind, dass man diese Banalität nur bloßzulegen braucht, um sie demaskieren. Dass es überhaupt keiner intellektuellen Anstrengung bedarf, die Wahrheit zu erkennen. Dass alles so furchtbar simpel ist. Was in Palästina / Israel vor sich geht, ist ein Witz. So wie wohl alles, was irgendwo im Namen von Religionen und sonstigen Ideologien schiefläuft, ein Witz ist. Blutig, tragisch, ja, aber eben so banal wie eine Torte, die einem zum hunderttausendsten Mal ins Gesicht geknallt wird. Lacht noch einer drüber? Hat überhaupt jemand schon einmal darüber gelacht? Nein. Aber Littell zeigt, wie viele Kriege solche religiösideologisch verbrämten Tortenschlachten schon ausgelöst haben.

In Ordnung, ich sehe die Gefahr einer solchen Sichtweise auf Literatur durchaus. Sie könnte zu einer großen Nivellierung führen, dazu, JEDES missglückte Produkt für ir-gend-wie gelungen zu halten. Aber auch das Misslungene hat seine Ästhetik, seinen Bauplan, muss gekonnt sein. — Hier, weil es die zweite andere Baustelle wäre, nur ganz kurz einen Pfeil ins Bedeutend-Allgemeine: Würden uns nur Bücher gefallen, die auf traditionelle und allgemein verständliche Weise „gelungen“ wären, wir dürften uns mit Kriminalliteratur nicht ernsthaft beschäftigen. Die nämlich ist dort entstanden, wo Kolportage und Kitsch regieren, die schnelle, unkonzentrierte Feder, das Triviale, Schnellverköstigende eben. — Ende Baustelle.

Doch. Ich bin davon überzeugt, dass Littell bewusst ein literarisch dürftiges Buch geschrieben hat. Auch ein kriminalliterarisch dürftiges Buch. Und dass es ihm genau aus diesem Grunde gelungen ist.

19 Gedanken zu „Littell-Stammtisch, kurzer Nachklapp“

  1. Her mit deinen hundert liebsten Büchern (von denen ich, wetten?, mindestens vierzig auch habe). Denn das glaube ich nicht, dass er „schlecht“ schreiben wollte. Mir ist eh schon aufgefallen, dass du das öfters anführst, dass manches extra schlecht gemacht ist. Sagst du jetzt auch selbst. Nein, nein.

    Den Verrat der Palästinenserin fand ich z.B. auch von äußerster Plattität – viel zu unvermittelt. Eine Palästinenserin, die mit einem Terroristen verheiratet ist, wird wohl kaum auf einen so plumpen Trick reinfallen, der in jedem Spionagefilm seit den 30er Jahren probiert wird.

    Zudem vermischst du die Argumentationsebenen. Du zählst auf, worüber er schreibt. Und sagst, er zeige es. Ich bin der Meinung, dass er es nicht zeigt. Weil er dafür keine Sprache hat. Man kann nicht mit einer Kitschsprache etwas zeigen. Und wenn, dann hat der intelligente Leser es nach zwei oder zehn Seiten verstanden und wendet sich den Rest des Buches gelangweilt ab. Denn er hat es ja schon verstanden und muss es nicht noch weitere 300 Seiten lesen. – Und das ist dann didaktische Literatur, die ist mir sowieso zuwider.

    Aber das ist genau der Unterschied zwischen unseren Ansätzen – deswegen mein Verriss. Du hast das sehr gut beschrieben. Weil er es nämlich nicht zeigen kann. Weil er dafür keine Sprache hat. Ich fand ja auch sein vorheriges Buch mit den wechselnden Identitäten nicht so dolle, weil viel zu platt und, jawoll, deswegen langweilig: Auch das hatte ich dann mal nach ein paar Seiten verstanden und es kam nichts mehr hinter. Den von dir mal empfohlenen „Zufallscode“ fand ich allerdings sehr gut. Und da schrammt er auch am Kitsch und an der Kolportage vorbei, aber da so gekonnt, dass man es auch merkt, dass es so sein sollte. Passt ja auch zum Thema. „Die Söhne Abrahams“ (hat eigentlich noch niemand die Anspielung auf Bob Dylan entdeckt? na) ist für mich misslungen, weil man, wenn es denn gewollt sein sollte, was ich immer noch bezweifle, es da nicht merkt. Es ist einfach nur misslungen.

  2. Guck lieber, dass der Alligator und Hinternet ganz oben einen Werbebanner für das neue Krimijahrbuch haben. Werbung umsonst

    * erklärt dpr Werbung

  3. dpr und Werbung – das ist nicht kompatibel, lieber Georg. Ich mache seit Wochen auf dem Krimiblog Reklame für das KJB und was ist der Dank?

    Ludger
    » verzweifelt
    » » wendet sich enttäuscht ab

  4. Ich muss zugeben, dass ich nach der Hälfte der Lektüre die Blaupause eines Verrisses fertig hatte. Was mich davon abhielt, war die Tatsache, dass „Vicious Circle“ (kein Dylan) eigentlich ein gelungener Tapas-Roman ist, ein wenig Stockholmsyndrom (wenn es auch gefaked ist), ein wenig US-Politik, ein wenig Thrill, ein wenig dies und das. So etwas geht häufig in die Hose, hier passt aber die Verflechtung der Teile.

    Vielleicht hat dpr sogar recht [„natürlich habe ich recht !, Ich habe immer recht“], und Littell hat das Demonstrative mit vollen Risiko und Bewusstsein gemacht. Es hat mich ziemlich beschäftigt, dass Littell schreibt, dass das Messer die Pulmonalklappe zerstört. Warum macht er das ? Sieht man nicht, weiß man nicht, spielt keine Rolle und ist nicht ‚mal ganz richtig (der Weg des Messers führt durch den Herzmuskel, so dass mehr zerstört und sowieso irrelevant ist, was zum Tod führt).

    Es gibt ja noch so Stellen. Vermutlich kündigt Littell damit an, dass er die inneren, unsichtbaren Mechanismen für den Leser offenlegen und aussprechen will.

  5. Wir wissen beide, lieber Kollege G., dass es eine Unmenge „schlechter Literatur“ im Sinne von kanns nicht besser,unbeholfen,ohne Sinn und Verstand hingerotzt gibt. Was meinst du, was ich allein dieses Jahr schon an Mist angelesen habe, leider viele Deutschkrimis darunter, einige explizit „Regio“, da kriegst du schon das Kotzen. Aber darum geht es bei Littell gar nicht. Nicht darum, dass das Buch „schlecht geschrieben“ sei. Sondern darum, ob es seinem Thema angemessen ist. Am Montag schreib ich noch was dazu, aus einem etwas anderen Blickwinkel. Das vorab: Ich bezweifle nicht, dass Mozart ein besserer Musiker war als die Jungs von den Sex Pistols. Aber stell dir mal vor, die hätten ihr „God save the Queen“ so elaboriert wie die Kleine Nachtmusik.
    @Bernd: Natürlich habe ich immer Recht! Ich weiß zwar nicht, was eine Pulmunalklappe ist (Halt mal deine Pulmunalklappe! Schön!), aber der arabische Terrordoktor ist Arzt. Und das finde ich eigentlich ziemlich hübsch, wenn bei der Beschreibung eines Mordes, den ein Arzt durchführt, die entsprechende Fachsprache bemüht wird, die ja eigentlich dazu dient, Menschen vor dem Tod zu retten. Das nur mal als Ansatz.

    bye
    dpr

  6. Ja ist Arzt. Habe ich kurz dran gedacht. Wenn ich mich recht erinnere, ist der gute Arzt weder für den Messerstich ins Herz (durch Yussuf), noch den Schuss oberhalb des M. latissimus dorsi direkt verantwortlich; und der beschriebene Stromfluss der durch die Betätigung des Schalters ausgelöst wird, steht nicht in Zusammenhang mit einem Physiker, Elektriker u.A.

  7. Ich versuche die ganze Woche herauszufinden, was Ihr wollt?
    Klar ist, Ihr lehnt die Annäherung der beiden Terroristen ab. Und zum Ende wird es kitschig (zugegebenermaßen). Wie ginge es anders?
    a)Sie lassen die Widersprüche zwischen sich stehen, ja verstärken sie noch (ich glaube, das wäre dramaturgisch nicht sinnvoll)
    b)Es kommt während des Gespräches zu einer Intervention von außen, das die Thrillerelemente verstärken würde (dann wäre der Schwerpunkt verlagert)
    Wenn ich richtig verstehe, stört Euch die ganze Duselei der alten Männer, weil sie die Härte des Konflikts nicht abbildet. Wenn schon, dann eine reine Thrillerhandlung mit realen Konfliktsituationen.
    Gut, worin liegt dann der Reiz dieses Buches?
    Für mich ist die Konstellation mit den zwei Extremisten auf engen Raum ein origineller Einstieg. Die Außenhandlung fand ich eher konventionell gebaut.
    Na, ja, jeder rezipiert anders und weiblich (Einzahl)sein, heißt wohl überwiegend kitschig zu sein.

  8. Du meinst, wenn die Welt schlecht ist, muss man sie auch schlecht beschreiben? Nö.

    Was heißt angemessen? Muss ich Gewalt gewalttätig beschreiben? Langeweile langweilig? Gut, bin ich mit einverstanden, kann man machen.

    Aber wie schreibt denn Littell? Kitschig und unpassend. Danach hätte er eine kitschige und unpassende Welt beschrieben. Und das passt nicht. Denn es wird ja nur kitschig, weil er es so beschreibt. Die Welt im Nahen Osten ist alles, auch kitschig, aber nicht, wenn es um Terroristen geht. Das glaube ich nie und nimmer.

    Das Problem ist: Du scheinst immer noch davon auszugehen, dass Littell es so gewollt hat, weil er ein überragender Autor ist. Ich glaube, dass es ihm gründlich misslungen ist, weil er ein schlechter Autor ist.

    Und wenn Sex Pistols zu Mozarts Zeiten gelebt hätten, hätten sie auch so elaboriert. Und Mozart hätte heute, so er lebte, schöne Popmusik gemacht, wahrscheinlich.

  9. Das kam wohl beinah gleichzeitig von mir und Frau Henny. Also.

    Was mich stört? Nichts von dem, was du aufgezählt hast, denn das ist alles Inhalt. Könnte man alles machen. Wenn man es kann. Was mich stört, ist, dass Littell es nicht kann. Es wird bei ihm zum Kitsch, es passt nicht zusammen.

  10. Zitat Georg: Es wird alles Kitsch und passt nicht zusammen.
    Kommentar dpr: Bravo, Georg! Genau darum geht es doch! Es wird alles Kitsch und passt nicht zusammen. Prägnanter kann man diesen ganzen Wirklichkeitsunfug nicht zusammenfassen! Bedank dich bei Littell, dass er dir die Augen geöffnet hat!

    bye
    dpr

  11. Danke, Herr Littell!

    Henny
    man fühlt sich so ohnmächtig, wenn es von zwei Seiten nur immer Kitsch, Kitsch, Kitsch herüberruft. Ich weiß schon gar nicht mehr, wer wer ist.

  12. Das habe ich schon beim Schreiben geahnt. Na, immerhin lobst du mich. Das passiert ja auch nicht alle Tage.

    Dennoch. Was ist denn Kitsch? Nach Duden oder hier der Einfachheit halber Wikipedia „Kitsch steht zumeist abwertend gemeinsprachlich für einen aus Sicht des Betrachters emotional minderwertigen, sehnsuchtartigen Gefühlsausdruck. In Gegensatz gebracht zu einer künstlerischen Bemühung (…) werten Kritiker einen zu einfachen Weg, Gefühle auszudrücken, als sentimental, trivial oder kitschig“.

    Also der Ausdruck, nicht aber die Wirklichkeit, die er gestaltet. Das ist die Lücke, in der Littell selbst fällt. Weil er eben keine Sprache hat, mit der er sie gestaltet könnte.

    Das ist bei dir immer noch die Unschuldsvermutung. In dubio pro: Du setzt voraus, dass Littell ein guter Autor ist, und deshalb ist sein Buch gut, weil alles Unvermögen gewollt ist. Ich sehe nur das Unvermögen, weil mir der Rest, den du ja auch nur vermutest, egal ist.

    Ich glaube aber kaum, dass wir da noch auf einen gemeinsamen Nenner kommen werden.

  13. ich hab jetzt nicht JEDEN post mitgelesen – aber würdet ihr eure kritik jetzt anders schreiben, nach dem diskussionsprozess?

    oder sind kritiken in beton gegossen, wurscht, was andere sagen?

  14. In Beton gegossen nicht, bezaubernder mittler Körper, aber sehr schwer zu revidieren. Schau dir nur Georg und Henny an! Da redet man ihnen gut zu, aber sie wollen einfach nicht hören! Ich hoffe aber, dass wenigstens Georg einsichtig ist (Henny ist ja eine Frau, und eine einsichtige Frau ist ungefähr so selten wie ein zweihörniges Einhorn) und beim nächsten Stammtisch kräftig lobt. Der neue Bottini hat es aber auch wirklich verdient!

    bye
    dpr

  15. Ich sehe alles ein.

    * lobt Bottini
    ** lobt Juli Zeh
    *** lobt den Himmlischen Körper, wenn er denn mal fertig wird mit seinem Winzerkrimi
    **** lobt dpr
    ***** lobt den Alligatoren, wenn er endlich mal Werbung für das von ihm verlegte Krimijahrbuch machte

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