Vor manchen Fragen scheut man ja instinktiv zurück; und vor keiner so angewidert wie vor der, was denn „Krimi“ eigentlich sei. Meine Erfahrung sagt mir: Je intensiver ich mich um eine Definition bemühe, desto mehr zersplittert der Begriff an sich. Eine andere Frage jedoch bleibt fruchtbar; nicht weil sie sich schlüssig beantworten ließe, sondern weil die Beschäftigung mit ihr immer neue Fragen aufwirft, die für sich schon Erkenntnisse sein können. Wann wird etwas als Krimi wahrgenommen – und wann nicht? Und warum?
Darüber werde ich mich anlässlich einer Rezension von Hans Leberts „Die Wolfshaut“ in der zweiten Ausgabe von watching the detectives – die Zeitschrift auslassen. Das Thema beginnt mit der Frage, warum eigentlich der „Glauser“ Glauser heißt und nicht „Perutz“. Nun, dafür gibt es einige offensichtliche und gute Gründe, aber etwas tiefer soll schon gegraben werden.
Meine Arbeitshypothese stützt sich indes auf eine Analogie. Analogien können, um Tatbestände verständlicher zu machen, nützlich sein; allerdings nur, wenn man weiß, wo sie füglich aufhören sollten. Ich habe mich aber etwas erinnert, das meine Jugend wie ein Fluch begleitet hat: Das Suchen nach einem Radiosender.
Ältere werden sich vielleicht noch erinnern. Man hockte auf dem Bett, das Kofferradio (TELEFUNKEN Bajazzo oder wie das hieß) auf den Knien und versuchte, einen der in der Nordsee dümpelnden Piratensender (Radio Caroline zum Beispiel) „reinzukriegen“. Ich glaube, das Ganze funktionierte im Langwellenbereich, bin mir aber nicht ganz sicher. Sicher bin ich mir aber, dass es eine unglaubliche Präzisionsarbeit war, die Frequenznadel zehntel-millimeter-genau auf der Skala zu platzieren, um die geliebte Musik hören zu können. Nur dass das selten der Fall war und auch nie wirklich „rein“. Abgesehen davon bedurfte es ständigen Neujustierens, da die Frequenzen irgendwie „schwankten“ (ich bin kein Fachmann auf dem Gebiet). Im Grunde war man zufrieden, wenn sich zwei Sendequellen nur so weit überlagerten, dass die erwünschte die unerwünschte einigermaßen übertönte. Ich habe deshalb manchen Song als einen der Kakophonie beängstigend nahen Soundteppich in Erinnerung, „Black Night“ von Deep Purple beispielsweise, in dessen Hintergrund gerade die Nachrichten in serbokroatischer Sprache verlesen werden. So etwas bleibt einem für den Rest des Lebens.
Praktisch sah das also so aus: Es gab eine Frequenzbandbreite, auf der – sagen wir: Radio Caroline zu hören war. Innerhalb dieser Bandbreite gab es zwei Toleranzbereiche (bildlich gesprochen: links und rechts vom „Idealzustand“), die das Hörerlebnis als „ungefähr passabel“ deklarierten. Man konnte etwa den neuesten Song der Rolling Stones HÖREN. Nicht sauber, manchmal verwischte er auch wieder ins Kakophonische, dann musste man nachjustieren, aber immerhin. Man konnte ihn hören. Den Idealzustand hat man nur höchst selten erreicht; eigentlich nie.
Soweit die Analogie. Auf unsere Ausgangsfrage übertragen bedeutet sie: Ob etwas als Krimi wahrgenommen wird oder nicht, liegt an der Position eines Textes auf der Frequenz- = Genrebandbreite. Wir tolerieren dabei ein gewisses Maß an „Unreinheit“, weil es uns genügt, Krimi zu „erahnen“. Die Entwicklung des Genres zwingt uns zu ständigem Nachjustieren, aber irgendwann, wenn „der Konkurrenzsender“ zu sehr die Oberhand gewinnt, sind wir nicht mehr gewillt, etwas als „Krimi“ zu bezeichnen. Bei Lebert zum Beispiel hieße diese Konkurrenz „hohe Literatur“.
Ja. Und darüber mache ich mir jetzt in aller Ruhe meine Gedanken. Das Ergebnis gibt es dann Ende Juli. Hoffentlich noch im Toleranzbereich der geneigten Leserschaft.
Zumindest bist du auf dem richtigen Weg.
schön. du zwingst auch zu ständigem nachjustieren.
Wobei das heute ja schon automatisiert gehen sollte, es justiert ja auch keiner mehr händisch an Kofferradios herum. Ich plädiere für einen automatischen Genredetektor. Am besten Multi-Genregeeignet. „Was ist ein Gedicht?“, ist ja auch so eine schwierige Frage.
Liebe Frau krimi.krimi,
Du bist ja wie keine Zweite prädestiniert, zu erkennen, dass Kategorien wie Borderline, Psychose, Schizophrenie usw, dem Wandel der Zeit, dem Konsens der Nutzer und (gelegentlich) der Unschärfe unterliegen. Dabei scheint es mir, dass hüben wie drüben die Zuordnung in eine dieser Kategorien leichter ist als die Festlegung einer unveränderlichen Definition.
Mit anderen Worten, wenn man denn noch einmal die Analogie dpr’s nimmt, der Empfänger ist in Deinem Kopf und natürlich muss der ständig nachjustiert werden. Jedes von Dir gelesene Genrebuch verschiebt die Frequenz auf der das Genre in Deinen Kopf einstrahlt.
Ich arbeite durchaus noch mit händisch zu justierenden Transistorradios. Sie haben diesen schönen schmutzigen Grund-Sound. Und allein die Namen der guten alten Piratensender (Radio North Sea gehört auch dazu, all die illegalen, immer wieder hops genommenen Stiefgeschwister von Radio Luxemburg) rufen in uns älteren MitbürgerInnen wunderbar subversive Assoziationen wach, unsereins hat schließlich seine ersten sexuellen Grenzüberschreitungen zu derlei doppelt unkoscheren Sounds begangen, nicht zu ABBA und anderen Automatisierungen. An einem dieser Sender hat übrigens, wenn ich nicht irre, Ted Allbeury mitgewirkt. Fazit – die Analogie ist in allerley Hinsicht genial.
Ständig nachjustieren muss jeder, der Kunst (egal welches Medium, Genre, Spielfeld) ernst nimmt – und das ist gut so und die einzige Chance, sich all die maschinenlesbare „Literatur“ vom Hals zu halten. Ein Kunst-Werk ist immer eigen, hat seine eigenen Bezüge zu seinen Kontexten und seine eigenen Widerborsten, um die Regelwerke aufzumischen. Alles andere ist Hinterhergehechle von Schreibomaten auf ausgelatschten Pfaden. Gilt auch für alles, wo „Krimi(nal)“ davor steht.
„Kunst ist, Fiktionen in den öffentlichen Raum zu stellen“, hat irgendein bildender Künstler kürzlich mal irgendwo formuliert. Klingt banal, könnte aber vielleicht den Ekel gegenüber „was ist Krimi“ mildern?
Gutes Handwerk gehört natürlich auch immer dazu. was wiederum zeigt, dass das händische Justieren auf beiden Seiten vonnöten ist…
P.
Yep,Pieke. Dauernd nachjustieren, was kann ich mich noch an die Flüche erinnern, wenn einer von den tollen Sendern langsam weggerutscht ist und man tatsächlich in den serbokroatischen Nachrichten war. Ich kannte aber auch viele, die beim Musikhören auf Klangreinheit bestanden. Ist also immer subjektiv. Mich hat das Dreckige nie gestört, so lange der Grundsound rauszuhören war. — Und Sex und Abba? Ja, furchtbar…
bye
dpr
Nix gegen Reinheit, wo sie hinpasst. Ich kann mich auch an kristallklaren elektroakustischen Klängen berauschen oder Jimi-Hendrix-Riffs, Else-Lasker-Schüler-Zeilen, David-Hockney-Farblinien, die so pur sind, dass es wehtut… Ich will aber in einer Großstadt keine U-Bahn, in der man vom Fußboden essen kann.
Will nur sagen: is allet nich bloß subjektiv, kömmt ohmdrein ooch imma uff’n Jehngstand an, wa?
Aloha – P.
Da sind wir uns ja einige, liebe Pieke. Bei diesen Piratensendern hätte ich mir Stereophonie oder so überhaupt nicht vorstellen können. Da gehörte das „Dreckige“ einfach zum Jehngstand. Bei Krimis? Uh, was ist ein „reiner“ Krimi? So ein klinischer? Ein „klassischer“, Whodunit oder Psüschodriller? Als krimihistorisch halbwegs geschulter Mensch habe ich so meine Bedenken, etwa Conan Doyle als mögliche Blaupause für Krimireinheit zu akzeptieren. Oder Hammett. Oder die ollen zwei Schweden. Oder gar die Frau da, wo mir im Vierfünfsechs der Name grad nicht einfällt. A bissel Dreck im Genresinn hängt da ja immer dran. Und wo keiner dran hängt, ist vielleicht der Autor vorher mit dem Sagrotan der Bestsellerei drüber gegangen.
bye
dpr
Mein ich doch, my dear Dietlinde Pauline! Zum Krimi… gehört das Dreckige wie zum Piratensender, schließlich haben wir mal als Schmutz&Schund angefangen, und ICH hab das immer als wertvolle Tradition begriffen. Dreck ist der Bodensatz aller Kultur (wenn ich bloß wüsste, wer das wieder gesagt hat). Was ’n „reiner Krimi“ is? Keene Ahnung. Sowas wie ’n schwarzer Schimmel? Wo jeder weiß, dass Schimmel eigentlich grün…?
Nu kommst Du!
P.
Ja, aber: Ich hör und les das Dreckige auch gerne rein. Damals klang Jimis Amerikahymne genauso dreckig wie „Der Junge mit der Mundharmonika“, wenns bei Caroline mit Hintergrundkakophonie gelaufen wäre. Das wäre dann der künstliche, auf Dreck getrimmte Krimi. Dann gibt es Prosa, die ist furchtbar sauber – glaubt man. Bestes Beispiel seit mehreren Jahrhunderten: Jean Pauls „Schulmeisterlein Wuz“. Ach, wie humoristisch! Ach was schmunzelt da der Akademiker! Und was ists in Wirklichkeit? Ein bösartiges, irritierendes, im Dreck geradezu wühlendes Stück Immerwirklichkeit. Geht also auch so. „Dreck ist der Bodensatz aller Kultur“, murmelte ich am 13. Januar 1987. Aha. Patentieren lassen.
bye
dpr
Interessant wird es für mich, den Zeitraum einer Nachjustierung zu bemessen, bis wir von einer akzeptierten Neujustierung sprechen können. Oder gibt es solche Qualitätssprünge nicht? Wenn es aber so wäre, wer wirkt dann mit welchem Anteil an der Bestimmung mit?…ist ja nicht nur eine Sache zwischen Leser und Autor.
Herzliche Grüße
Henny
Auch das. Wobei solche Toleranzen immer auch von Generalparametern abhängig sind. Bei Musikqualität etwa von allgemeinen Hörgewohnheiten. Wer zieht sich heute noch Langwellengemurmel rein, wenn er digital sauberen Sound haben kann? Bei Krimis sind immer auch generelle literarische Entwicklungen zu berücksichtigen (wobei die Annahme, der Krimi habe sich nicht aus dem Fundus der Moderne bedient, reichlich dubios ist. Jeder Alltagsdialog in einem durchschnittlich gelungenen Krimi ist heute „der Moderne“ verpflichtet – was kein Qualitätsurteil ist).
bye
dpr
Aber manchmal ist Langwellengemurmel viel spannender als das ganze Digitalrauschfreisterilisier. So entstand z.B. der hartgeboilte Krimi.