Das Wattestäbchen

Meistens haben Krimis wenig mit der Wirklichkeit zu tun und die Wirklichkeit hat wenig mit Krimis im Sinn. DAS jedoch versprach eine Ausnahme zu sein: die mysteriöse Phantommörderin.
Jene geheimnisvolle Frau also, die seit Jahren durch die Lande reist und Verbrechen begeht: ein Polizistenmord hier, ein Schuleinbruch da, vor allem im Saarland ist die Lady schwer aktiv und hinterlässt überall ihre DNA. Das hat was, das ist STOFF – und man wundert sich schon, dass noch kein Autor tätig wurde und uns Aufstieg und Fall der Dame dramatisch geschildert hat.

Sollten aber tatsächlich solche Bemühungen unternommen worden sein, dann heißt es vielleicht bald: Packt eure Exposés und Manuskripte wieder ein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn möglicherweise hat die Superverbrecherin →gar nicht existiert. Einiges spricht dafür, dass die Wattestäbchen, mit denen die DNA-Proben gesichert wurden, kontaminiert waren. Und zwar mit dem Erbgut einer unachtsamen Mitarbeiterin der Herstellerfirma. Der sensationelle Fall gerät mithin zur Posse.

Ich finde das großartig. Ein sensationsheischendes Produkt, aus dem sich ein Thriller comme il faut stricken ließe, entwickelt sich zur Plotidee für einen Krimi, der die Genrekonventionen elegant unterläuft. Kommissar X ermittelt, das Spannungsmaschinchen brummt auf Hochtouren, der Spannungsbogen wölbt sich atemberaubend über actiongeschwängerte Sätze –und am Ende sitzt Lieschen Müller bei der Vernehmung und gesteht: „Tja, ich hab halt nießen müssen und hab halt auf die Stäbchen gerotzt, und weil ich die nicht wegwerfen wollte, hab ich sie halt einfach eingepackt.“

Ach, was würden sie einen in der Luft zerreißen, die Herolde des normkonformen Kriminalromans! Die arme Leserschaft düpiert! Schwerer Unfug! Unrealistisch! Gestelzt, aufgesetzt! Unsereiner sitzt ob solcher Meldungen indes traurig vor dem Rechner. Mensch, Mensch, Mensch, DAS hätte einem einfallen müssen! Was für eine Geschichte! – Nun ja: Muss man eben weiterhin seine irrationale Phantasie bemühen, um der Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen.

dpr
der hiermit den Freitagsbeitrag schon am Donnerstag abliefert und sich voraussichtlich übermorgen mit den Titel-Samstagskrimis wieder meldet.

15 Gedanken zu „Das Wattestäbchen“

  1. genau das habe ich heute morgen beim Radiohören, nein, gelacht. Shit, warum ist mir diese geniale Story nicht eingefallen. Nein, zum Glück nicht, 101 ehemalige Kriminaloberinspektoren weisen Inkompetenz nach. Von wegen! Alles ist möglich, nicht erst seit der Finanzkrise bekannt, bitte erfinden bevor es passiert!
    Gruß, Kle (der seit Jahren die Fahndung nach dem Phantom gebannt verfolgt)

  2. Hinterher ist man ja immer schlauer. Ich hoffe nur, dass das BKA Labor den Regeln für Laborqualität vollumfanglich folgte. Dann hätte es eigentlich Blindproben von nicht benutzten Wattetupfern geben müssen (entweder durchs Labor oder durch den Hersteller), also sollte die Frequenz kontaminierter Tupfer sehr gering gewesen sein.

    Scheißjob: Jetzt stehen sie im Labor ein wenig als Deppen da.

  3. Teurer Irrtum, nebenbei. Und der Hersteller sagt jetzt, die Stäbchen seien „nicht zertifiziert“ gewesen, was immer das auch heißen mag. KrimiautorInnen hören so etwas natürlich gerne: nix Phantomlady, sondern unvorsichtige Packerin (möglicherweise). Nur: Wer würde es wagen, so einen Plot zu setzen?

    bye
    dpr

  4. Nur: Wer würde es wagen, so einen Plot zu setzen?

    Ich nicht.

    Wenn Materialien u.A. zertifiziert sind, wird bestätigt, dass sie für eine bestimmte Methode geeignet sind. Nicht zertifizierte Dinge sind vom Labor besonders genau auf Tauglichkeit zu überprüfen und zwar nicht einmalig sondern regelmäßig. Auch zertifizierte Reagenzien und Verbrauchtsgüter sollten in einem gewissen Umfang überprüft werden.

  5. ausgerechnet Wattestäbchen. Aber warum die Geschichte an ihnen aufhängen? Kommissar Oberklug soll Jagd auf das Phantom machen und wundert sich nach scharfem Nachdenken und Ermitteln: Warum DNA-Material nur in 2 Landesteilen und warum sind die Taten nach herkömmlichen Maßstäben (Inkl. vollständigen Geständnissen, keine Frau im Spiel) eigentlich geklärt? Nur neuartige Technik bewirkt Automatismus, weiter fahnden zu müssen. Er gerät auf die Spur einer Wattestäbchenfirma, die ausschließlich jene Landesteile beliefert. So weit die reellen Recherchen der österreichischen Polizei, die das Phantom ja bezweifelt hat. Kommissar Oberklug muss sich nun mit der Frage herumschlagen, wer Interesse an der Kontaminierung gehabt haben könnte. Das wäre zumindest glaubwürdiger als die Wirklichkeit.

  6. Es steckt – wie fast immer – kein Supertäterhirn, kein Superkripodödel dahinter, es ist bloß eine banale winzige Stellschraube, die ganz systemlogisch gedreht war und diesmal dummerweise ein Desaster begründet hat. Die Drehung erklärt sich aus dem derzeit besonders beliebten four-letter word GELD: Zertifizierte Teststäbchen sind teurer als nicht-zertifizierte, für Blindproben zur Kontrolle braucht man doppelt so viele Stäbchen. Man muss da der Polizei bzw. denen, die für die Beschaffung von Material verantwortlich sind, weder Schlamperei noch böse-böse Schnäppchenmentalität nachsagen: Sparzwang reicht. Er ist ja lange genug das Erste Gebot allermöglicher Dienstauffassungen. Seine Konsequenzen kriegt man allerdings meistens erst so spät zu spüren, dass die Ursache-Wirkung-Kette aus der Optik rutscht. Beim „Phantom“ hier folgte die Strafe zufällig mal auf dem Fuße. Schön! Nur lernen wird wieder kaum einer was daraus. Außer vielleicht ein paar „Dichter & Denker“ (-innen), die solche alltäglichen Sachzwang-Strukturen und ihre Auswirkungen auf „Mensch & Arbeit“ immer schon spannender fanden als Verschwörungstheorien aller Art. Und aus dem Gelernten muss gar nicht unbedingt „Krimi“ rauskommen. Könnte aber.
    Frohes Schaffen – P.

  7. Jenau, Pieke. Runterbrechen. Wie einen Thriller anfangen und dann ins Himmelschreiende des alltäglichen Wahnsinns steigern. Das nenn ich Spannungsbogen und Dramatik! Ob ich jetzt die Wirklichkeit verklagen kann, weil sie mir geistiges Eigentum geklaut hat?

    bye
    dpr

  8. „Das ist aber jemandem genauso passiert!“ Nun wird sich aber in der Wirklichkeit an irren Auflösungen gefreut, weil sie wahr sind, im Text werden sie aus dem gegenteiligen Grund gehasst. Bzw. sie können wohl irre sein, wenn Spuren auf sie hinweisen, die ihnen den Geruch des Taschenspielertricks nehmen und ihnen den Anschein fiktionaler Realität verschaffen. Also müsste die Wattestäbchen-Frau schon früh eingeführt werden. Oder der Kommissar wittert großes Wattestäbchenfirmen-Verbrechen, doch seine Kreise schließen sich letztlich immer mehr (und mit Sicherheit hochspannend )um die harmlose Verpackerin.

  9. Da ist gewiss was dran, mein Lieber. Wenn ich auf der Straße zufällig einen Beutel mit einer Million finde, ist es eine gerne gelesene Story. Wenn ich eine Romanfigur auf der Straße eine Million finden lasse, gibts nen Minuspunkt. Schade, dass die Wirklichkeit abstruser sein darf als ein Roman. Ob daher der Roman wirklicher ist als die Wirklichkeit?

    bye
    dpr

  10. Sagen wir mal so: An den Roman werden dieselben Ansprüche gestellt wie an eine Kaffeemaschine. Für manche ist er auch Gottes letzte Zuflucht. Aber auch sowas hatte mal Charme: „1. Jede Aussage verweigern. 2. Nicht mit einer Wahrheit herausrücken. 3. Lügen wie gedruckt. 4. Die Dinge auf den Kopf stellen. 5. Nicht die Wirklichkeit Sprache, sondern die Sprache Wirklichkeit werden lassen. 6. Nicht von der Sprache sprechen. 7. Sich in Widersprüche verwickeln 8. Nicht für den Tag schreiben. 9. Nicht für die Ewigkeit schreiben. 10. Die Dinge in der Schwebe halten. 11. Sich mit den Tatsachen nicht abfinden. 12. Nicht mit beiden Beinen auf dem Erdboden stehen. 13. Keine Regeln für andere aufstellen.“ etc.etc. (Peter Handke, Manifest.) Ich persönlich liebe realistische (abstruse) Schlüsse, solange ich nicht das Gefühl habe, dass sie aus Hilflosigkeit entstanden sind.
    „27. Keine Manifeste verfassen. 28. Schwarze Schuhpasta kaufen. 29. Weltberühmt werden.“

  11. …wobei das Irre in der Realität ja dadurch entsteht, dass man, wie schon angemerkt wurde, die Kausalketten und Zufälle nicht kennt, die es bedingten: Großer Schock. Hätte man die Schritte hingegen von Anfang an verfolgt: Keine Überraschung, da der Irrsinn Methode hat. Deshalb Empörung über Autoren, die Deus ex machina machen. Die wissen doch alles, was in ihrem Buch passiert und behalten es nur für den Effekt für sich. Sagt der Autor: Ich wollte doch nur nachzeichnen, wie Wahrnehmung in der Realität funktioniert. Leser: Trotzdem wusstest du es, Oberlehrer.

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