22. Mai 1859: Arthur Conan Doyle. Aus dem Notizbuch

Das Jahr der runden Geburtstage. Edgar Poe wird 200, Eric Ambler 100 – und Arthur Conan Doyle, hübsch und sinnig dazwischen, feiert seinen 150sten.
Doyle ist überall, das heißt: sein Held Sherlock Holmes ist überall, nur manchmal nicht dort, wo Doyle ist. Doyle mag aufatmen, denn die Gesellschaft seines Protagonisten war ihm zeitlebens lästig. Er hat ihn geschaffen und ist von ihm geschaffen worden, er hat ihn irgendwann verabscheut und schnöde in den Reichenbach-Fällen entsorgt, bis er den Ungeliebten zähneknirschend wieder aus dem Wasser fischte. Treppenwitz: Ausgerechnet der Schöpfer dieses Vernunftmenschen par excellence ergab sich in späteren Jahren dem Spiritismus und sagt seiner Kopfgeburt Holmes endgültig good bye.

Kein unproblematisches Verhältnis ergo. Ob, neben Doyles Überzeugung, nicht das Holmes-Sammelsurium, sondern das übrige OEuvre mache seinen schriftstellerischen Rang aus, noch andere Gründe dafür existierten? Ein Misstrauen in Holmes‘ Methode vielleicht? Einmal hat Doyle ja selbst →den Holmes gegeben und sich an die Aufklärung eines Verbrechens gewagt. George Edalji, ein Pfarrer indischer Abstammung, war in einem obskuren Prozess verurteilt worden, Doyle will ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und scheitert doch. Nicht die Beweiskraft der Logik bringt Edalji in Freiheit, politisches Kalkül ist es. Hier konstatieren wir eine Kluft zwischen Literatur und Wirklichkeit, wie sie größer kaum sein kann, und eben auch die obligatorische Niederlage, die der durchaus engagierte Mensch Conan Doyle erleidet, wenn er einem Menschheitsmoloch namens Rassismus gegenübertritt.

Die Holmes-Methode. Als Sherlock Holmes im ausgehenden 19. Jahrhundert kraft Deduktion die Welt erobert, macht in Wien Sigmund Freud von sich reden. So wie Doyle die Physis deutet (ein Mann hat Druckerschwärze an den Händen, also muss er ein Drucker sein), so Freud die Psyche. Das deduktive Verfahren des Literaten (das Besondere ist eine Ableitung vom Allgemeinen) steht dem eher induktiven gegenüber. Vom Besonderen wird auf das Allgemeine hochgerechnet, weil eventuell jemand mit seiner Mutter schlafen will, möchten wir das alle irgendwie. Aber eigentlich ist das Induktive nicht von dem Deduktiven zu trennen, sie sind nur als Paar zu haben, niemals einzeln. Wenn Holmes in der wahnwitzigen Idee zu Hause ist, man müsse nur die Menschheit (in der jeder Drucker Druckerschwärze an den Händen hat) kennen, um den Einzelnen darin zu erkennen, dann liegt dem natürlich die ebenso irrwitzige Idee zugrunde, es genüge, bei einem Druckerschwärze an den Händen zu konstatieren, um zu wissen, dass alle Drucker Druckerschwärze an den Händen haben. Sorry, aber anders als durch Irrtum erreicht, ist Erkenntnis nun einmal nirgendwo zu haben.

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Aber lassen wir das, kommen wir zur trivialen Abteilung. Sherlock Holmes – Geschichten sind spannend. Wir wissen etwas nicht – und dann wissen wir es. Was wir wissen? Spielt keine Rolle. Im Vorgang des Lesens ist es natürlich das Wichtigste überhaupt, aber wenn wir mit dem Lesen fertig sind, ist es völlig unwichtig geworden, abgehakt. Eine fertige Welt in unserem Gedächtnis, ein schauerlicher Hund, der heulend übers Moor schleicht, eine verblassende Welt, die, wenn wir nicht mehr wissen, was wir doch mal gewusst haben (wers nämlich war), wieder interessant genug wird, damit wir das Buch noch einmal lesen.

Man kann Doyle wirklich nur lesen, wenn man etwas, das man gar nicht wissen möchte, unbedingt wissen will, weil man es irgendwann vergessen haben möchte, um es noch einmal wissen zu wollen. Das ist die Quintessenz der dominierenden Kriminalliteratur après Holmes: Du kannst „Das gesprenkelte Band“ nur dann ein zweites Mal lesen, wenn du vergessen hast, dass dieses Band eigentlich eine Schlange ist. Eine Kriminalliteratur ohne Geheimnis ist dem Verstauben preisgegeben. Es sei denn, sie ist in toto ein Geheimnis und lässt uns nach jeder Lektüre immer wissender, das heißt immer ratloser zurück.

Klingt das jetzt zu negativ? Soll es gar nicht. Einmal, weil Kriminalliteratur immer aus und in der Zeit ihrer Entstehung gesehen werden muss. In ihr war Conan Doyle nicht nur der richtige Mann am richtigen Ort, er war zugleich Vollender einer Entwicklung. Die dramaturgische Blaupause stand bereit, wenn das Genre „erfunden“ wurde, dann mit Sherlock Holmes. Weniger als Person, vielmehr als Methode, als dramaturgische Vorgabe. Sie verwandelt Spannung in Spiel, gibt ihr Regeln. Nach dem Bauplan des Conan Doyle werden bis zum heutigen Tag Krimis konstruiert. Auch dort, wo von protagonistischer Omnipotenz, naivem Positivismus längst keine Rede mehr sein kann.

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Und so weiter. Die Weltfigur Holmes trägt das Stigma der Unsterblichkeit. Schaut man tiefer in diese Pappfigur hinein, verschwindet man in einem Grand Canyon widerstreitender Obsessionen. Da wird der Logiker zum Romantiker oder der Romantiker zum Logiker, da spürt man den Widerwillen vor der Berechenbarkeit der Welt und auch den Drang, sie bis zur letzten Stelle hinter dem Komma auszurechnen. Eine durch und durch ambivalente Schöpfung, die aber danach schreit, harmonisch geformt zu werden. Wer sie aber formt, presst ihr das Leben aus dem Leib, wenn sie Form annimmt, zerfließt sie – und beginnt von Neuem zu atmen. Unsterblichkeit eben.

3 Gedanken zu „22. Mai 1859: Arthur Conan Doyle. Aus dem Notizbuch“

  1. Lieber dpr,

    „Du kannst ‚Das gesprenkelte Band‘ nur dann ein zweites Mal lesen, wenn du vergessen hast, dass dieses Band eigentlich eine Schlange ist“: ich glaube, daß dies ein (erkenntnisfördernder, s.o.) Irrtum ist. Als ich sie zum ersten Mal gelesen habe (um 1979), da hab‘ ich fest an die Richtigkeit dieser These geglaubt, weil sie mich als ‚atypischen‘ Krimileser auswies, der nie Probleme damit hatte, Krimis mehrfach zu lesen, auch wenn er — ich — die Lösung nicht vergessen hatte. Inzwischen glaube ich, daß sie (die These) von der krimiproduzierenden Industrie in die Welt gesetzt wurde und als genrekonstitutives Ideologem bezeichnet werden muß.

    Beste Grüße!

  2. Nachtrag: bemerkens- und überlegenswert ist, daß diese These für Film- und Fernsehformate niemals ernsthaft in Erwägung gezogen wurde.

  3. Wenn, wie von der genannten krimiproduzierenden Industrie posaunt, der Wert eines Kriminalromans auf seiner Rätselqualität beruht, der Kriminalroman auch keine Anstalten macht, mehr zu sein als das und die Leserschaft damit zufrieden ist, stimmts schon. Bezeichnend auch, dass man viele Krimis ganz schnell wieder vergisst (so geht es mir jedenfalls), andere wiederum durchaus mehrmals lesen kann, obwohl die intendierte „Spannung“ weg ist, WEIL man weiß, wie sich am Ende alles fügt. So ist es mir etwa mit den Sjöwall / Wahlöös ergangen, den Biermanns, den Charyns, den Simenons etc. Hinter diesem „Wenn du weißt, wers war, kannst du das Ding entsorgen“ steckt natürlich pure Ökonomie (und somit tatsächlich genrekonstitutiv, der Krimi als schnelllebiges Konsumgut). Nichts ist schlechter für die Industrie als ein dreimal gelesener Krimi, für den nur einmal bezahlt wurde. – Ihr Verweis auf Film und Fernsehen ist tatsächlich bedenkenswert.

    bye
    dpr

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