Small Talk

Es ist der größte anzunehmende Unfall. Und im Gegensatz zum atomaren GAU, der uns höchstens alle zwanzig Jahre beglückt, ereignet er sich tagtäglich in unseren Fernzügen: eine Geschäftsreise mit dem Chef. Stundenlanges Sichgegenübersitzen, Erzählzwang, Nickautomatismus. Aber was soll man reden mit diesem ausbeuterischen Arschgesicht? Dieser Ein-Mann-Terrororganisation? Als treuer Leser von wtd weiß man sich natürlich zu helfen. Man zieht ein dickes Buch, Krimi, versteht sich, aus dem Reisenecaissaire und beginnt zu lesen. – Hat aber einen entscheidenden Fehler gemacht! Doch lesen Sie selbst…
Chef: Sie lesen einen Krimi? Einen deutschen Krimi? Sind die nicht furchtbar schlecht?

Sie: Och… nö, eigentlich…

Chef: Hab ich aber gelesen!

Sie: Echt? Dass deutsche Krimis schlecht sind? Und warum?

Chef: Weil es nur fünf wirklich bekannte deutsche KrimiautorInnen gibt! Und weil bekannt gleich gut und unbekannt gleich schlecht ist.

Sie: Aha.

Chef: Doch! Hingegen gibt es ca. 500 – 5000 bekannte britische und amerikanische KrimiautorInnen!

Sie: Also gute…

Chef: Genau!

Sie: Und wer sind – äh – die guten deutschen?

Chef: Moment mal, obs mir noch einfällt… ja, genau: Patrick Süßkind, Charlotte Link, Frank Schätzing, Andreas Franz und Ingrid Noll.

Sie: Hochinteressant. Und warum haben wir so wenige gute Schreiber?

Chef: Ganz einfach. Weil bei uns kaum Verbrechen passieren! In einer einzigen amerikanischen Großstadt werden exakt so viele Verbrechen begangen wie in allen deutschen Großstädten zusammen!

Sie: Ui!

Chef: Ja! Und eine CIA haben wir auch nicht! Noch nicht mal ein FBI! Oder ein MI-6! Wo sollen sie also herkommen, die guten deutschen AutorInnen?!

Sie: Das leuchtet ein. Traurig.

Chef: Traurig, ja. Aber es leuchtet ein Lichtlein am Horizont! Ich sage nur: Wimmer Wilkenloh!

Sie: Wimmer…

Chef: Wilkenloh! Oder Ella Danz! Ganz zu schweigen von Manfred Bomm!

Sie: Genau… ganz zu schweigen…

Chef: Und Uta-Maria Heim!

Sie: Nun, die ist ja durchaus… aber jetzt mal unter uns, Chef: Wer schreibt denn so etwas? Der Gmeiner Verlag, bei dem alle genannten…

Chef: Ach was! Das ist →wissenschaftlich erwiesen!*

Sie: Hört, hört.

Chef. Das schreibt niemand anderes als →„Katrin“*. Katrin ist die Krimiexpertin bei „Claudia’s Literaturblog“ – man beachte den Deppenapostroph, Claudia hat nämlich Germanistik studiert. Und Katrin auch! Sie ist zarte 25 und sitzt gerade an ihrer Doktorarbeit zum Thema „Britischer Kriminalroman“!

Sie: Ja dann… Früher habe ich auch solche ewigen Erstsemester gekannt. Die haben ständig vor dem Kaffeeautomaten gestanden und drauf gewartet, dass unten die Seminarscheine rauskommen. Und plötzlich waren sie Vollakademiker.

Chef: Ja, das geht manchmal schnell mit den Karrieren. Jedenfalls mal vormerken, die Frau, wenn wir noch Kompetenzen für unser Team brauchen. So, aber jetzt lesen Sie ruhig weiter. Ich lausche mal in mein Hörbuch rein. Andreas Franz, „Hochspannung pur!“, sagt Katrin. Wecken Sie mich bitte, wenn wir am Ziel sind.

(*Die genannten neuen Hoffnungsträger des Deutschkrimis klaube man sich gefälligst selbst von der Seite. Oder lasse es vernünftigerweise bleiben. Mit den angegebenen Links kann es unter Umständen Schwierigkeiten geben, was nicht an der Fehlerhaftigkeit der Links, sondern der Fehlerhaftigkeit der aufgerufenen Seiten liegt. Wer partout dort lesen möchte, muss sich über die Hauptseite durchhangeln.)

Nachtrag: Und dann noch, wie konnte ich das nur übersehen, →einige schlagende Argumente, warum Frauen bessere Krimis schreiben als Männer. – Weil die guten Männer schon alle tot sind! Jawoll!

4 Gedanken zu „Small Talk“

  1. Klar, die Angloamerikaner verdienen einfach mehr Geld mit ihren Büchern:

    „Da kann man natürlich viel merh Geld in die Hand nehmen – länger Recherchieren, mehr Spesen, längere Schriebzeit… einfach mehr Qualität“

    Die Doktorarbeit, vermutlich wird JL sie über IASLonline besprechen lassen. Ich bin schon neugierig.

    Und überhaupt: Endlich habe ich verstanden, warum der skandinavische Krimi so erfolgreich ist.

    Beste Grüße

    bernd

  2. Was solls. Klimpern tun sie beide. – Und von meinem Verleger verlange ich in Zukunft mehr Spesen, damit ich „einfach mehr Qualität“ bieten kann.

    bye
    dpr
    *wäre gerne Amerikaner

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