Listensäue

Es war eine dieser Nächte, in denen der Gewissenswurm durch die Gedärme kriecht, das eigene Tun als ein Nichtstun vor einem steht und den Kopf schütteln würde, hätte es denn einen, eine in zermürbender Wachheit verbrachte Nacht, in der man erst einschlafen kann, wenn der Hahn kräht, doch es ist kein erquickender Schlaf, es ist ein Schlummer der Resigination, der Traum albt wie die Kuh kalbt, sagten die Altvorderen – und siehe, sie hatten recht.

Du bist Krimikritiker? Aha. Und was tust du? Keine Antwort. Aha. Und was könntest du tun? So viel, ja. Was ist die Rechtfertigung für deine Existenz? Du sollst dich um die Volksgesundheit in Sachen Krimi kümmern, aber was tust du? Du kritisiert und kritisierst, und das lesende Volk zieht achtlos an dir vorbei und kuschelt sich in seine selbstgewählte Verblödung, weil DU nicht tust, was du zu tun hättest: dem Volke LISTEN schenken, die wie weiland bei Karl May die Orientierungsstangen durch den tückischsten Llano Estacado des Lesens sein sollen.

LISTEN. Die 100 besten Krimis aller Zeiten abzüglich Zukunft, die 47 das Blut gerinnen lassendsten Thriller, 286 Klassiker des Heimatkrimis, alphabetisch geordnet, das dreckige Halbdutzend der epochalsten Psychokrimis – ein Superlativ gibt dem nächsten die Klinke in die Hand, die Tür zur verhütungssichersten Kriminalliteratur öffnet sich und staunend tritt das Volk in die Geborgenheit des Verbürgten, du kannst hier nichts falsch machen, alles ist von Experten getestet, der Krimi-TÜV, kein durchgerosteter sprachlicher Unterboden, keine morsche Handbremse in Sachen Spannungsbogen, die Scheinwerfer der Erleuchtung funktionieren prima, in allen Reifen, die dich flüssig durch den Text rollen, stimmt der Luftdruck, man wird nicht denken müssen, nicht selbst urteilen, man muss einfach nur lesen und lesen.

DAS fordert das Lesevolk, also gib es ihm. Die 100 schönsten Dialoge, zum Beispiel. Aber schon stößt du an deine Grenzen. Müsstest Titel nennen, die kein Mensch kennt, verschüttetes Zeug aus Zeiten, die längst niemanden mehr interessieren, und am Ende fügst du resigniert den üblichen Chandler, den üblichen Hammett hinzu, aber die stehen schon auf allen anderen Listen (nein, nicht auf „die 99 menschenverachtendsten Giftmorde seit Agatha Christie“), und dann siehst du, Mensch, den Ellroy haben wir noch nicht verbraten, sind doch auch hübsche Dialoge drin, also rasch auf Platz 88 gehievt …. nein, das klappt so nicht und überhaupt: Wen interessieren schon Dialoge?

Die 100 besten Kriminalromane aller Zeiten, in denen Frauen in geblümten Kleidern Zigaretten in Zigarettenspitzen rauchen, auf Caféhausstühlen mit den Füßen wippen und wie vollmöblierte Schlafzimmer blicken. Aufschreiben, recherchieren. Die 24 Krimis mit dem größten moralischen Mehrwert, in denen ein sachte bewegter Zeigefinger sein „Du sollst nicht töten, du kleiner Schelm“ über Hunderte von Seiten wie der Sinaigott steinerne Botschaften den Berg runterkegelt. Mindestens 33 Krimis, in denen Schwiegermütter umgebracht werden oder Hunde vorkommen, die Maximilian heißen und so penetrant mit den Schwänzen wedeln, dass sie sofort auch bei „Die 499 erotischsten Krimis, in denen Poppen Liebemachen heißt“ auftauchen könnten.

Danach lechzt das Volk. Belehrung, Anleitung, Führung. Die 100 weisesten Krimikritiker aller, aber auch wirklich aller Zeiten, die dem Volke geben was dem Volke ist, das Leben in Stichworten nämlich, garantiert ungeeignet zum Nachdenken, denn es darf kein Danach geben, sobald du das Buch zugeklappt hast, das wäre hybrid, wie man so sagt, da könnten sich Realität und Fiktion mischen wie Nitro und Glyzerin, wenn du verstehst, was ich meine. Wir sind das McDonalds der Quickielektüre, McKrimi im Schlabberbrötchen der Buchdeckel, dafür sind wir auf der Welt, die uns nicht braucht. Also sollten wir uns unentbehrlich machen. Listensäue, die wir sind.

dpr

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