Rainer Gross: Kettenacker

kettenacker.jpg Nach einem knappen Viertel von „Kettenacker“ tauchte ein schrecklicher Verdacht auf: Sollte Rainer Gross auf den Spuren von Friedrich Ani wandeln? Es hatte wie ein ordentlicher Krimi begonnen, mit einer Leiche also, genauer gesagt: den sterblichen Überresten eines vor knapp 80 Jahre ermordeten und verscharrten Kindes. Dann jedoch und immer dominierender kommt der liebe Gott ins Spiel und mit ihm die Moral und mit ihr all die Fragen, die man von Ani kennt, dieses Zweifeln und Verzweifeln, dieses Trauern und Wüten und Resignieren.

Ganz ehrlich: Das wollte ich mir nicht antun. Aber Rainer Gross kann besser schreiben als Friedrich Ani, der Duktus, in dem er seine Hauptperson, den pensionierten Lehrer Hermann Mauser denken lässt, ist dem Gegenstand dieses Denkens angemessen. Weiterlesen. Und irgendwann gewöhnt man sich an den lieben Gott und was sie alles mit ihm anstellen. Und dann ist „Kettenacker“ ein wirklich lesenswerter Kriminalroman.
Eine Leiche. Hermann Mauser, Gross‘ Protagonist schon aus dem hochgelobten Debüt „Grafeneck“, stößt bei seinen archäologischen Recherchen auf die Knochen eines kleinen Mädchens, das ganz offenbar ermordet wurde. Die Tat fällt in die 30er Jahre, das ist bald klar – und die Aussicht, den Mörder zu finden und zu bestrafen, tendiert damit gegen Null. Dennoch macht sich Mauser ans Werk, Kommissar Greving, auch er ein alter Bekannter aus „Grafeneck“, ermittelt ebenfalls und irgendwann arbeiten sie zusammen. Wer die Tote war, stellt sich rasch heraus: eine Cousine Mausers, eine allerdings, von der er nichts wusste. Sie verschwand eines Tages aus dem kleinen Ort Kettenacker und damit auch aus dem Gedächtnis der Menschen, ihr Vater, ein Sozi, wurde von den nationalsozialistischen Herren eingesperrt, solche Vaterlandsverräter vergewaltigten natürlich auch ihre eigenen Töchter, aber irgendwie verlief alles im Sand, wurde vergessen.

„Kettenacker“ ist die logische Fortsetzung von „Grafeneck“, wo es ja um das Schicksal von Mausers Schwester Mutz ging, die als „lebensunwertes Leben“ vernichtet worden war. Das Schicksal der kleinen Cousine wirft nun ein neues, überraschendes Licht auf diese Sache, steigert sie ins für Mauser beinahe Unerträgliche. Im Mittelpunkt des Romans steht jedoch die Kirche, steht Gott, an dem sowohl Mauser als auch Greving mehr und mehr zweifeln. Hier könnte man dem Roman eine gewisse Redundanz vorwerfen, eine Neigung, sich von der Handlung zu entfernen und auf einer eher metaphysisch-philosophischen Ebene weiter zu forschen. Es ist jedoch die Sprache, die alles herausreißt und erträglich macht, ja, spannend in seiner Absurdität, seiner Erhöhung zur griechischen Tragödie. Sehr logisch, wie Gross die Verzweiflung, die Wut Mausers immer weiter vorantreibt, wie er ihm den ebenfalls zweifelnden und verzweifelnden Greving an die Seite stellt, der ein wenig zu plakativ über Gut und Böse räsonniert, aber schon in Ordnung, so mag es sein, wenn einem die Welt zusammenbricht und alle Werte plötzlich ihren Sinn zu verlieren drohen. Gott kommt abhanden und wird dadurch allgegenwärtig.

Ein Kriminalroman im klassischen Sinn ist „Kettenacker“ schon, einer mit Ermittlungen und neuen Erkenntnissen, mit dem allmählichen Sichtbarwerden des Täters, der natürlich schon tot ist, aber in seinem ganzen Elend schließlich vor dem Leser entsteht. Wäre es nicht ein leerer Allgemeinplatz, könnte man den Roman „atmosphärisch“ nennen, weil er seine wütende Verzweiflung glaubhaft macht und gegen Ende vergessen lässt, dass ja eigentlich „Genregesetze“ einzuhalten sind. Werden sie auch, aber eben nicht als Showcase, als künstlich hochgepepptes Spannungsstückchen. „Kettenacker“, das ist die dem Debüt ebenbürtige Fortsetzung einer Geschichte, die mehr ist als die notwendige Verarbeitung von deutscher Vergangenheit. Ein Stück Menschenkunde, manchmal schwer zu ertragen, aber immer notwendig und angemessen.

dpr

Rainer Gross: Kettenacker. 
Pendragon 2011. 365 Seiten. 12,95 €

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