Was ist Krimi? Neues aus der Zettelwirtschaft 7

Und immer turbulenter wirbeln die Zettel. Warum es tröstlich sein kann, wenn Schulkinder ermordet werden und das Lesen eine größere Kunst ist als das Schreiben, über Kanzlerinnen und andere Eiserne Jungfrauen, Prostituierte und überhaupt: die Zeit, die über sich zusammenbricht. Wie immer live bei Facebook.

Zettel 61: Eines der Hauptverdienste Poes ist der praktische Nachweis, das die Fiktion als etwas Wirkliches zu behandeln ist und das Wirkliche als eine Fiktion. Dies NICHT zu tun, führt zu dem bekannten Phänomen der Verdrängung, des Eskapismus, in seiner Spitze dazu, unsere natürliche Angst vor dem Verbrechen durch fiktionales Zelebrieren zu verharmlosen. Siehe Krimi“events“, siehe aufgemotzte Leichen, den ganzen Unfug des Schmunzelmordens und der seriell gekämmten Gänsehaut.

Zettel 62: Die Entwicklung der Kriminalliteratur erfolgt in zwei Zeitbewegungen. Die erste ist linear, chrono-logisch und winkt mit dem Schicksal aller Weltreiche: Aufstieg – Höhepunkt – Niedergang. Die andere beschreibt einen Kreis, die Entwicklung läuft zurück zum Anfang. Sehr kompliziert.

Zettel 63: Am Einsteig rummurksen. Nicht WAS zu sagen ist, bereitet Schwierigkeiten, sondern das WIE. Die LeserInnen nicht gleich abschrecken, sie werden sich noch früh genug verfluchen, das Buch gekauft zu haben.

Zettel 64: Krimis sind Übersteigerungen, Zuspitzungen, Verzerrungen glattgebügelter Realität. Also: Krimis sind von Natur aus Satiren. Sie machen etwas fassbar, sie malen schwarz/weiß, sie lösen Angstblockaden, indem sie das Licht im Keller der Ängste anknipsen. So wie uns die Satire zum Lachen bringt, damit wir weinen können. Krimi und Angst gehören zusammen. Satirische Krimis? Ein Pleonasmus.

Zettel 65: Wie verblüffend leicht man Poes „Die Morde in der Rue Morgue“ in die Gegenwart umschreiben kann! Der unmögliche Mord als der perfekte Mord, das Böse als animalische Kraft. Man muss den Lesern nur erklären: Was bei Poe in der Mörderfigur des Affen steckt, das steckt heute in der Mörderfigur eines kollektiven und „entmenschten“ Mechanismus.

Zettel 66: Noch immer wunderbar: Poes „The Man in the Crowd“. Nicht nur ein entschieden „moderner“ Text, sondern auch ein Urdokument zum Entstehen von Kriminalliteratur.

Aktualitätszettel: Wie immer: Ein unlösbarer Kriminalfall, an den ein Happyend geklebt wird. Commissaria Angela versammelt alle Verdächtigen in Brüssel, legt die Fakten auf den Tisch, kombiniert und ruft: Der Affe wars! Alle Blicke richten sich auf Berlusconi. Ackermann schwitzt hinter seiner Menschenmaske und freut sich auf den Feierabend, wenn ihm seine Gehilfen die Läuse aus dem Pelz puhlen, der dann gewaschen wird, aber nicht nass.

Zettel 67: Warum freut man sich beim Lesen von Rob Alefs „Kleine Biester“ über jedes ermordete Schulkind? Ernste Anzeichen moralischer Verrohung oder ein tieferer Blick in das Wesen von Literatur? Große Hoffnung: Der Mörder möge nie gefasst werden.

Zettel 68: Einen Krimi zu lesen ist schwieriger, als einen Krimi zu schreiben. Betriebe ich eine Schreibschule für angehende KrimiautorInnen (jenes höhere Wesen möge mir diese Form des unsittlichen Broterwerbs ersparen!), ich würde meine Schülerschar lesen lassen! Nichts als lesen! Denn lesen heißt denken und wer das verstanden hat, wird erkennen, dass denken schreiben heißt und umgekehrt. Traurige Prognose: Nach drei Wochen müsste ich meine Schule mangels Schülern schließen.

Zettel 69: Ich habe nicht die Bohne gegen Prostitution. Wer seinen Körper freiwillig verkauft, bietet eine solide Dienstleistung. Wer seine Seele verschachert, betreibt spekulative Leerverkäufe. Spontane Weisheit beim Zurkenntnisnehmen einer „Krimirezension“ (gäbe es keine Gänsefüßchen, man müsste sie erfinden).

Zettel 70: 2011 ist ein prächtiges Jahr für deutschsprachige Kriminalliteratur! (1872 war vielleicht noch besser) Namen? Borrmann, Geier, Goldmann, Rohm, Kiesbye, Horst, Alef… Woran erkennt man gute Kriminalliteratur? An den bescheuerten Rezensionen.

Materialien zu einer Studie über die Wirkung des Krimischreibens als Pürierstab für Hirnmasse, Zettel 184.981: „…diesmal kein Krimi, sondern ein literarischer Text…“ Plötzliche, doch sehr heftige Sehnsucht nach den glorreichen Zeiten der Inquisition, ergebnisloses Suchen bei ebay nach „Eiserner Jungfrau, gebrauchstüchtig, leicht in der Handhabung, bei Barzahlung kostenlose Streckbank obendrauf“.

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