„Die Masse ist der Spielball aller äußeren Reize, deren unaufhörlichen Wechsel sie widerspiegelt. Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen.“ In der Kriminalliteratur bündeln sich die Affekte des Einzelnen als Teil der Masse. Der Krimi erfüllt alle notwendigen Bedingungen einer kulturell institutionalisierten Massenhysterie, er liefert die groben Impulse, das Unerhörte des Verbrechens und die aus Angst vor dem Unbekannten entstehende Panik.
„Alles, was die Phantasie der Massen erregt, erscheint in der Form eines packenden, klaren Bildes, das frei ist von jedem Deutungszubehör und nur durch einige wunderbare Tatsachen gestützt: einen großen Sieg, ein großes Wunder, ein großes Verbrechen, eine große Hoffnung.“
Geschürt und zugleich gesteuert wird dies von einem großen Führer, dem allwissenden und letztlich siegreichen Detektiv, ein Goebbels der Literatur, ein Rattenfänger, der die immer gleiche Melodie auf seiner trivialen Flöte bläst.
„Da die Masse nur durch übermäßige Empfindungen erregt wird, muß der Redner, der sie hinreißen will, starke Ausdrücke gebrauchen. Zu den gewöhnlichen Beweismitteln der Redner in Volksversammlungen gehört Schreien, Beteuern, Wiederholen, und niemals darf er den Versuch machen, einen Beweis zu erbringen.“
1841. Poe schreibt „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ und Gustave LeBon wird geboren. 1895. Sherlock Holmes befindet sich auf seinem Siegeszug um die Welt und Gustave LeBon veröffentlicht „Die Psychologie der Massen“ (alle vorstehenden Zitate aus diesem Werk), einen Klassiker jener Spielart der Psychologie, die dem individuellen Impuls-Reflex-System ein kollektives zur Seite stellt. Die Psyche existiert demnach in doppelter Ausführung und beide Gestalten sind sich im Grunde fremd. Der feingeistige Kulturmensch, der die Logistik des Genozids organisiert, der Biedermann, der brandstiftet. The Man of the Crowd, wieder Poe. Und vielleicht die eigentliche Geburt der Kriminalliteratur. Greife dir einen x-beliebigen Menschen aus einer Menge und folge ihm und er führt dich unweigerlich zum Verbrechen.
Der Krimi also die Büchse der Pandora, die man ruhig öffnen darf, weil sie das ganze Elend der Massenpsyche in gezähmtem Zustand enthält und uns als spannenden Zeitvertreib serviert, ein gefesselter, eingekäfigter Orang-Utan, in dem wir uns wiedererkennen? Das Animalische unserer Kulturseele als Katzenkrimi.