Krimis interpretieren

Man renne nicht gleich schreiend davon, wenn ich behaupte, Franz Kafka habe mit seinem Roman „Das Schloß“ auch für eine Sternstunde der Kriminalliteratur gesorgt. Nein, nein, wir werden ihn schon nicht vereinnahmen. Aber was passiert dort eigentlich? Ein Landvermesser namens K. wird auf ein Schloss befohlen und weiß bis zum Ende nicht, was er dort soll, und die Leser wissen es ebenfalls nicht. Der Rest ist Interpretation.

Interpretation oder: Erfindung. Jedes literarische Werk von Rang wartet darauf, interpretierend erfunden zu werden. Das Offensichtliche, das zugunsten einer positivistisch dominierten Sinnhaftigkeit Elaborierte ist jedoch ein Feind der Erfindung. Hier nämlich gilt: Überlasse das Erfinden den Autoren. Die erfinden das Areal, auf dem du Leser schöpferisch tätig sein darfst, denn auch gleich mit.

Wäre also „Das Schloß“ ein Kriminalroman, er müsste, um vor den Urteilen seiner Konsumenten zu bestehen, erstens klar aussprechen, warum K. aufs Schloss befohlen wurde, zweitens erzählen, wie sich die mysteriöse Ausgangssituation sukzessive erhellt und drittens, wie die Geschichte im Sinne dieses logischen Konstrukts endet. Ansonsten hätten wir quasi permanenten Suspense, die Interpretationsmöglichkeiten wären unendlich und nicht, wie im zünftigen Krimi, auf das immer stärker reduzierte Innenangebot des Textes beschränkt.

Dieses Binnenangebot an Interpretationsmöglichkeiten ist das Hauptcharakteristikum herkömmlicher Kriminalliteratur. Und dabei kommt es zu einem seltsamen Phänomen. Mein als Leser eingereichtes Interpretationsangebot („Müller hat Maier erschlagen, weil Maier Müllers Frau beigewohnt hat“) wird spätestens am Ende des Endes gnadenlos mit dem fixen InterpretationsGEgebot des Autors verglichen. Habe ich gut erfunden, also den Täter, das Motiv frühzeitig entdeckt – bin ich enttäuscht, denn das finale Überraschungsmoment fehlt. Habe ich schlecht erfunden, hat nicht Müller Maier erschlagen, sondern Schulze, weil ihm Maier Geld schuldete, bin ich glücklich darüber, beim Erfinden versagt zu haben, wird mir doch nur so das Aha-Erlebnis als Belohnung zuteil.

Nun sind die meisten Kriminalromane so gestrickt, dass bis kurz vor ihrem Abschluss sowohl die Erfindung „Müller erschlägt Maier“ als auch die „Schulze erschlägt Maier“ als des Autors ultima ratio latent bleibt. Für welche dieser Möglichkeiten sich der Autor letztlich entscheidet, ist ein mehr oder weniger willkürlicher Akt. Der Autor muss uns seine Entscheidung nur gut verkaufen können.

Kafka hätte „Das Schloß“ also damit beenden können, dass er K. zum Objekt einer Intrige macht. K. nämlich hat, wie wir vielleicht zwanzig Seiten vor dem Ende erfahren würden, vor Jahren die Tochter des Schlossherrn verführt, diese wiederum beging Selbstmord, der trauernde Vater sann auf Rache etc. „Das Schloß“ wäre somit formal zum Krimi geworden – und wahrscheinlich sofort aus dem Kanon „Hochliteratur“ gefallen. Zu recht, natürlich.

Ist also Kriminalliteratur mindere Literatur? Nein. Erstens, weil es von Anfang an Kriminalromane gegeben hat, die selbst dann, wenn sie Lösungen beeinhalten, die das Wer Warum Wie ausarbeiten, genügend Raum für Erfindungen bieten, die nicht genrekonform mit einer Musterlösung des Autors abgeglichen werden. Zweitens, weil dieses Wer Warum Wie in vielen Kriminalromanen entweder nicht mehr elaboriert wird oder als Nebenprodukt, als Konzession an den herkömmlichen Krimigeschmack.

Nehmen wir Jerome Charyns „Citizen Sidel“. Ein Roman, den der Leser völlig für sich erfinden muss. Tut er es aus alter Gewohnheit nicht, liest er einen völlig konfusen, schlechten Krimi. Schauen wir uns nun an, wie die Kritik „Citizen Sidel“ erfunden hat, fällt auf, dass sie sich hier und da freiwillig in begrenzte Interpretationsrahmen hat zwängen lassen. Ist „Citizen Sidel“ wirklich ein Roman über die Absurditäten des US-amerikanischen Präsidentenwahlkampfs? Gut, er ist in Deutschland just erschienen, als sich Herr Obama intern mit Frau Clinton prügelte und extern mit Herrn McCain und Frau Palin. Dennoch ist die Erfindung „Citizen Sidel = Präsidentenwahlkampf“ eine angesichts der Möglichkeiten bedauerliche Selbstbescheidung der Kritik.

Von Kafka gelernt hat auch Pablo De Santis, dessen „Die sechste Laterne“ geradezu „kafkaesk“ gelesen werden sollte und in dem uns der Meister auch konsequenterweise ständig über den Weg läuft. Hier werden Leserin und Leser zu Erfindern, wie auch bei Leo Perutz, der uns sehr viel elaborierter vorkommt, dessen Textkonstrukte jedoch dann, wenn man sie nachbaut, immer sofort in sich zusammenfallen und so doch wieder das Eigenschöpferische des Rezipienten verlangen.

Aus dem bisher Behaupteten ergeben sich Fragen. Ist jeder „frei erfindbare“ Text ein „guter, literarisch hochwertiger“ Text? Und jeder in seinen Interpretationsmöglichkeiten beschränkter ein literarisch mißlungener? Natürlich nicht. Aber genauso wenig ist ein präzise durchkonstruierter Krimi automatisch gelungen und ein hinsichtlich seiner Sinnhaftigkeit und oberflächlichen Lösungen im Nebulösen verbleibender automatisch ein schlechter. Kafkas „Schloß“ gehört auch nicht deshalb zum Kanon der großen Literatur des 20. Jahrhunderts, weil er uns etwas erzählt. Sondern weil er uns selbst etwas erzählen lässt.

3 Gedanken zu „Krimis interpretieren“

  1. Zum Davonrennen sind solche Fragen nie. Das Schloss ist ja ein so schönes Beispiel, weil es ein Maximum an Offenheit liefert. Kafkas Gerichtsthriller „Der Prozess“ ist da nicht ganz so geeignet, weil es da diesen Schluss gibt (auch wenn er für die Geschichte nichts hergibt). Ich kann mich noch erinnern, dass ich von dem Überangebot an Interpretation des Schlosses als Schüler ziemlich genervt war. Später dann war es anders. Heute nervt mich oft das Gegenteil: die relative Banalität so gut wie jeder Auflösung eines Kriminalromans. Der Reiz von „Das Schloss“ hängt ja auch irgendwie mit der Unermesslichkeit des Potenziellen zusammen. Dieses Potenzielle am Ende immer wieder auf ein Singuläres verengt zu sehen, ist oft so verdammt schal.
    Gut – das mag in der Natur der Sache liegen. Aber der Kriminalroman kann Kompensation liefern, und zwar in Form von sogenannten „blinden Motiven“ (Michael Maar). Gemeint sind diese kleinen Details und Beobachtungen, die dem Leser fast bedeutsam erscheinen, die aber in Wahrheit nichts mit der Handlung zu tun haben – ein Rabe auf einem Zaunpfahl, ein Gesicht hinterm Fenster irgendeiner kackbraunen Mietskaserne usw. Hier werden auch Krimis durchlässig, „offener“ und schon rieselt Schönheit herein.
    Blinde Motive sind vielleicht sogar der verborgene Reiz eines Kriminalromans. Und das ist vielleicht auch eine Antwort darauf, warum diese handwerklich anscheinend perfekten Werke oft so unbefriedigend sind. Denn blinde Motive werden hier oft – weil nichtfunktional – gnadenlos ausgemerzt.

  2. Schon recht, mein Lieber. Indes: Alles steht und fällt mit dem Leser, der Leserin eines Textes. Die genannten „blinden Motive“ werden im textökonomischen Verständnis mancher zu Überflüssigkeiten, wo einem kein Sinn entgegenhüpft, kann keiner sein etc. So muss das Buch zum Leser finden und andersrum.

    bye
    dpr

  3. dazu habe ich kürzlich eine überraschende Lösung gehört
    X: das geht nicht, das geht nicht, das und das auch nicht
    y: ist aber so gewollt.
    X: was?!! Ja, wenn das im Klappentext steht, geht es natürlich.
    Noch eine Lösung:Auf einen Krimi nicht „Krimi“ zu schreiben, bedeutet nicht unbedingt Schielen nach „Literatur“, sondern Schutz vor Lesern, die genau wissen, was ein Krimi ist.

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