Chartskritik 11.11.2002

Teil 1 der neuen Charts-Kolumne also. Dachte erst: super, war ja früher schon Charts-süchtig. Außerdem bin ich top qualifiziert: mein Musikgeschmack ist legendär schlecht. Und irgendwas aus den aktuellen Top Ten hab ich eh immer im CD-Regal. In diesem Fall ist es die frisch gestürzte Nummer 1. Die neue Nummer 2 also. Aber dazu später.

Erst mal muss ich feststellen: herrjeh, ich bin ja schon dreißig. Die meisten Coverversionen kenn ich noch aus meiner Jugend, und bei den neuen Sachen reichen meine Augenbrauen bis unter die Decke…

Der neue Madonna-Song („Die another day“, Platz 4) zum Beispiel. Was soll das? Eine neue Folge der Reihe „Die schlechtesten James-Bond-Songs aller Zeiten“? Nach “Live and let die”, „View to a kill” und “The living daylights”… Keine Melodie, kein Refrain, dafür eine Art Bewerbungsvideo für Actionfilme. Madonna fightet gegen Wände, Schränke und ihr Alter. Gähn.

Und dann diese ganzen miesen Mark Oh-Erben. Eine Pest! Uralt-Hits als Billig-Techno mit Mickey-Maus-Stimmen. Ich sag nur „Dein ist mein ganzes Herz“ (D.J.R.O.C.K.; wenn auch geiles Video mit aufgebrezelten Bonanza-Rädern) und „Mandy“ (Mandy&Randy). Uarrgh. Und dann noch Rocco mit „Drop the bass“. Hilfe.

Aber das Bescheuertste in den aktuellen Charts sind – mit Abstand – die Toten Hosen. “Frauen dieser Welt, könnt Ihr mich hör´n? Blabla, ich will nicht stör´n.“ Klingt, als hätte Campino seine Reim-Versuche aus der Grundschule wiedergefunden. Wer kann denn ahnen, dass das ganze ein Funny van Dannen-Text ist? Au weia. Keine gute Idee, Tote Hosen. Denn Funny van Dannen verfügt über etwas, was Ihr nicht habt: subtile Ironie. Und in der klassischen Singer-Songwriter-Aufmachung kommt das sowieso anders als bei ´ner Ex-Punk-Mitgröhl-Band.

Es gibt aber auch ein paar gute Sachen. DJ Spud, „Set it off“ etwa. Elektropop für Studenten. Wo sie im Video bei ihm in den Regalen rumwühlt und so komische Einmachgläser findet. Und Craig David („What´s your flava”) – wow, was für ein stylishes Video! Mit Menschen in 70er-Jahre-Ganzkörper-Trainigsanzügen. Und Missy Elliot, na klar: „Work it“. Das ist superheißer, futuristisch funkelnder R&B!

Und dann noch mal ein Wort zu den ganzen Coverversionen. Von „Cotton Eye Joe“ über „Das erste Mal tat´s noch weh“ bis das-wollt-Ihr-gar-nicht-alles-wissen. Ich aber mach mir Sorgen. Denn was machen die Leute nach 2010? Was soll dann gecovert werden? Immer noch die ganzen 80er-Sachen? Sowas wie Bro´sis´ „Hot Temptation“ oder Christina Aguileras „Dirrty“ will – und kann – ja wohl niemand nachsingen?!

Nö, ich halt´s da mit Jeanette. Ist vielleicht nicht mehrheitsfähig, aber ich halte „Rock my life“ für den einzig guten Song in den Top Ten (Platz 5). Die restlichen neun sollte man ganz schnell rausschmeißen (naja, bis auf die neue Nummer 2 natürlich: Las Ketchup mit „Asereje“…). Und als allererste die neue Nummer 1: Nelly mit Kelly Rowland (Nelly und Kelly… Zwinker, zwinker!) und „Dilemma“. Ja, das könnten noch Leute in zehn bis 20 Jahren nachsingen, denn das ist nun wirklich melodiöser Kitsch der übelsten Sorte. Damit kann sich Nelly allerdings nicht mehr bei den Kumpels im Ghetto sehen lassen, ohne dass alle brennenden Mülltonnen anfangen zu lachen. Also Leute: kauft ganz viel Jeanette. Gemeinsam sind wir stark.

Die Top Ten vom 11.11.2002:

Nelly feat. Kelly Rowland
Dilemma

Las Ketchup
The Ketchup Song (Asereje)

Ozzy Osbourne
Dreamer

Madonna
Die Another Day

Jeanette
Rock My Life

Christina Aguilera
Dirrty

DJ Tomekk
Kimnotyze

Bro’Sis
Hot Temptation

Mandy & Randy
Mandy

Bomfunk MC’s feat. Folcke
(Crack It) Something Going On

Und hier geht´s zur Einzelkritik

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