Yazoo: Upstairs At Eric’s

Das schönste Rätsel des Pop

Bis heute haben Yazoo einen riesigen Stammplatz in meinem Fan-Herzen inklusive Altar und Kerzen, aber ich rätsel bis heute, ob sie einfach nur die „perfekte Band“ waren oder eher ein Anti-Phänomen des Pop, das tolle Musik gemacht hat?!

Fest steht: Yazoo waren keine wirkliche Band, sie waren ein Duo bzw. ein Projekt. Ohne große Vorbereitung taten sich Anfang der 80er zwei Meister ihres Fachs zusammen, obwohl ihre musikalischen Vorlieben unterschiedlicher nicht hätten sein können. Es gab keine Message, keine Selbstinszenierung und kein role model. Wer wollte sich schon wiederfinden in einem schmächtigen, publicityscheuen Synthie-Tüftler und einer korpulenten, resoluten Sängerin in weiten Gewändern? Außerhalb des Studios gingen sie sich aus dem Weg, und nachdem der Zauber des Anfangs verflogen war, trennten sie sich konsequent und unspektakulär nach nur 16 Monaten. Sie hinterließen ein Häufchen Hit-Singles und zwei LPs, darunter ein Debüt-Album, das mich jedesmal von Neuem umhaut: „Upstairs at Eric´s“.

Gesucht wird…

Im englischen Melody Maker annoncierte um die Jahreswende 81/82 die Halbfranzösin Alison Moyet als „female singer looking for rootsy blues band“ und erhielt Antwort von einem Elektronik-Freak namens Vince Clarke. Beide stammten aus Basildon in England und kannten sich flüchtig aus gemeinsamen Musikschul-Zeiten Jahre zuvor (Er: Geige, Sie: Oboe).

Die Liebe des Ex-Punks Moyet gehörte der schwarzen Musik, besonders dem Blues. Sie sang in diversen Bands, allerdings eher unter Ausschluß der Öffentlichkeit.

Vince Clarke war kein Unbekannter, er hatte gerade aus freien Stücken eine junge, vielversprechende Band namens Depeche Mode verlassen, just nach Erscheinen deren erster LP. Die Gründe waren vielschichtig und lagen irgendwo zwischen wachsendem Promo-Rummel und unterschiedlichen kreativen Vorstellungen.

Ähnlich präzise-unpräzise waren Clarkes Zukunftspläne, klar war einzig, daß er weder eine neue Band suchte noch vom Independent-Domizil Mute zu einem Major-Label wechseln wollte. Nach eigener Aussage trieb es ihn lediglich wieder ins Studio, um zu sehen, ob er´s noch konnte. Auch Moyet kalkulierte rein rational und sah primär die Chance professioneller Aufnahmen, die sie für ihre weitere Karriere als Demo-Material nutzen konnte. In längerfristigen Dimensionen dachte keiner der beiden.

Im Januar 1982 gründeten sie ihr Projekt und nannten es nach einem alten Mississippi-Blues-Label. (In den USA veröffentlichten sie aus namensrechtlichen Gründen als „Yaz“.) Im März erschien die erste Single „Only you“, im Juli mit „Don´t go“ die zweite, und im September folgte der erste Longplay, produziert vom Duo selbst, Mute-Chef Daniel Miller – und „Engineer“ Eric C. Radcliffe, dessen Mitwirkung sich wie ein roter Faden vom ersten Depeche Mode-Album bis hin zu späteren Clarke-Projekten zieht – und der sich nicht zuletzt im Titel des ersten Yazoo-Werks wiederfindet!

Fisch trifft Fahrrad

Der Start war furios: Singles und LP stürmten die Charts und erfreuten Fans wie Kritiker gleichermaßen. Yazoo trafen den Nerv der Zeit und des Publikums so perfekt, daß erst auf den zweiten „Blick“ deutlich wird, wie unkonventionell das musikalische Grundkonzept tatsächlich war. Auf eine einfache Formel gebracht: Pop trifft Blues. Elektronik trifft Stimme. Technische Präzision trifft Emotion. Das selbstgenügsame, sich im Augenblick erschöpfende Wesen des Pop prallte auf die erzählerisch entwickelnde Natur des Blues und auf die improvisatorische Neugier des Jazz, der Moyet im Blut lag. Mit ihr kamen Feeling und Dramatik: die melancholische, dunkle Seite war eindeutig ihre Mitgift!

„Upstairs at Eric´s“

Synthie-Popper Clarke brachte zudem die Offenheit einer Stilrichtung ein, die gerade am Beginn ihrer Geschichte stand – vom Crossover zweier erprobter Richtungen konnte also kaum die Rede sein. Das erste Album des Duos war vielmehr geprägt von einem Moment des Suchens und Ausprobierens, weil gesicherte Muster und Schablonen für diese Art von Musik fehlten. „Upstairs at Eric´s“ war ein musikalisches Experiment!

Der kreative Schub betraf auch die Konzeption der Songs und das akustische Material. Trotz des großen kommerziellen Erfolgs von Yazoo hätten die meisten Takes der „Upstairs at Eric´s“ mit ihrer Poesie, den vielen Brüchen und Stimmungsumschwüngen weder in den Charts noch auf der Tanzfläche eine Chance gehabt. Songs ohne wirkliche Strophen oder Refrains mit überlangen Intros und Fade Outs waren das Resultat eines untrüglichen Instinkts für Atmosphäre, der im Zweifelsfall eben übliche „Bauformen“ zum Opfer fielen. Statt dessen gab es kleine Kunstwerke, deren Struktur sich „aus dem Bauch heraus“ entwickeln durfte und sich sozusagen wie von selbst ergab! Außerdem arbeiteten Yazoo viel mit gesprochenen Passagen, allerdings nicht gerappt, sondern im Sinne normaler Alltags-Kommunikation: Sprach-Müll und Doku-Fetzen, die in „I before e except after c“ sogar in bester Dada-Manier zu einer Collage montiert wurden!

Einheit in Vielfalt

Die Synthese von Pop und Blues mit Ohrwurm-Charakter macht „Upstairs at Eric´s“ zu einer wirklich runden Sache. Das ganze Album ist auf fast altmodische Weise hochmelodisch – kein Wunder, schließlich ist Vince Clarke bekennender Simon & Garfunkel-Fan und spielte früher sogar Gitarre in einer Folk-Band(!), was sich noch am besten im Intro zu „Never never“ mit seinem späteren Projekt The Assembly nachvollziehen läßt. Und auch Alison Moyet als Black Music-Freak hatte ein Faible für eingängige Hooks.

Stilistisch liegen Yazoo zwischen New Romantic und New Wave: sie klingen einfach erfrischend realistisch! Das Song-Spektrum ist trotzdem sehr breit: Disco-Feger der frühen 80er, herzzerreißende Schnulzen und nicht-kategorisierbare Eigenschöpfungen. Der Sound ist meist funky, aber auch mal elegisch mit klassischer Klavierbegleitung.

Eine Maschine ist eine Maschine ist ein Mensch

Am Songwriting waren beide beteiligt, ansonsten jedoch herrschte strikte Arbeitsteilung: Clarke war für den Instrumental-Part zuständig und Moyet Alison Moyetfür den Gesang.

Die Elektronik-Arrangements sind typisch für die erste britische Synthie-Pop-Generation (plastisch-monumentale Blockbildung, harte Beats, percussives Geplucker und weicher Melodie-Fluß) und typisch für Vince Clarke, nämlich originell und sensibel.

Moyet steht dem technischen Equipment in nichts nach und kommt mit ihrer Ausdruckskraft und Wandlungsfähigkeit einem kleinen Orchester gleich. Nie wieder danach konnte Clarke ein vergleichbares Potential nutzen! Moyet füllt die coolen Elektronik-Klänge mit Leben, Power und Sinnlichkeit, schöpft aus einem riesigen Arsenal an Stimmungen, z. T. bis an die Grenzen des Häßlichen gehend, und schafft in den Backing-Vocals geniale Kontraste.

Die Songs in der Einzelkritik:

„Don´t go“

Der new-wave-igste Titel des Albums mit kühlen Synthie-Fanfaren, hartem Disco-Stomp und Moyets Stimme in voller Bandbreite. Zweite Hit-Single.

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„Too pieces“

Kategorien wie „Strophe“, „Refrain“ und „Mittelteil“ versagen hier, im Grunde sind nur Vokal- und Instrumental-Passagen zu trennen! Zaghaften Synthie-Formeln schiebt sich erst spät der Rhythmus unter, dann Moyets vokale Einstimmung, die sich in pathetischem Harmonie-Gesang entfaltet, bevor das Stück zurück ins Instrumentale fällt, fast völlig zum Stillstand und nur langsam wieder in Gang kommt. Die karge Instrumentation klingt nach und nach aus.

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„Bad connection“

Flotter Disco-Funk mit kurzatmigem Synthie-Geplucker, harten Beats und souligen Vokal-Echos im Hintergrund. Das Break im Mittelteil kombiniert ätherische Gesänge mit verzerrter Telephon-Stimme, und monotones Tuten bildet den Schluß.

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„I before e except after c“

Eindeutigstes Indiz für den experimentellen Charakter der frühen Yazoo! Weder Instrumental noch Song, sondern ein Patchwork aus geloopten Sprachfetzen, hysterischen Lachern, sphärisch-dumpfen Synthie-Klängen und Baß-Fragmenten. Nicht schön zu hören, aber ein wertvoller Einblick in die musikalische Seele des Paares bzw. Vince Clarkes, denn solche elektronischen Spielereien dürften kaum von Moyet ausgegangen sein.

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„Midnight“

Basiert allein auf der Melodie: erstmals steht der Gesang nicht nur als ear-catcher im Vordergrund, sondern diktiert die gesamte musikalische Struktur! Ein klassischer tiefschwarzer Blues, der eindeutig auf Moyets Konto geht und auch „nackt“ überlebt hätte, die Synthies sind hier entbehrlich und passen sich nur unterstützend an.

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„In my room“

Im Intro erklingen verzerrte Dialogfetzen und das englische Vaterunser, von Clarke zu kargem Synthie-Puls deklamiert. Moyets kräftiges Lamento legt sich mit stockenden Beats darüber. Der schwerfällige Song kommt langsam in Fluß, steuert auf seinen Höhepunkt zu, explodiert mit scharfem Klirren und bricht wieder ab. Gebet- und Gesangsfragmente lösen sich unregelmäßig ab und werden schließlich schichtweise abgebaut.

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„Only you“

Der Titel sagt´s schon: die einzig echte Schnulze des Albums! Tröpfelnde Synthie-Töne und weiche Elektronik-Schwaden verbinden sich gleichberechtigt mit Moyets spröde-unterkühltem Gesang, der diesem zuckersüßen Stück Soul-Torte die nötige Coolness gibt. Nonchalante Umsetzung mit herrlich gelangweiltem Fade Out. Kurios: obwohl keine zwei Jahre später in der a cappella-Fassung der Flying Pickets ein Mega-Hit, kennt kaum jemand das Original!

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„Goodbye seventies“

Startet mit wuchtigen Synthie-Riffs und mündet in nervös-funkiges Geflimmer mit einem Hauch Industrial-Glamour. Disco hoch drei! Moyet holt vokal alles aus sich raus, mißachtet die zehn ästhetischen Gebote und oszilliert zwischen Soul und Gospel!

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„Tuesday“

Wie „Too pieces“ mehr Stimmungsgemälde als Song: melancholisch-unheilschwanger und milde depressiv mit retardierenden Momenten und starken Kontrasten. Ein wabernder Syntie-Generator sucht sich die Tonhöhe, tuckernder Rhythmus, Industrial-Donner und watteweiche Glocken-Plops gesellen sich hinzu. Moyet stimmt sich fröstelnd summend im Background ein, apathisch und elegisch schiebt ihr Gesang dann den Song voran.

Geniales Spiel mit Nähe und Distanz: die unterschiedlichen Schichten des Songs (vor allem das ferne Flüstern) schaffen ein transparentes und fast dreidimensionales Relief. Diesmal liefern die schleifenden Synthie-Linien die Wärme, nicht Moyets Stimme!

Dann mitten im Song der Umschwung: über karger Instrumentation kommt das Stück zum Stehen, dann zu belebtem Beat-Herzschlag zurück in die erste Stufe zu neuer, flotter Synthie-Melodie und Hintergrund-Rauschen.

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„Winter kills“

Dumpfe Donner-Schläge und schwere Klavier-Akkorde mit zierlich perlendem Melodie-Fluß im Hintergrund als Intro der düster-dramatischen Blues-Ballade in Moll. Moyet steuert verhalten singend, flüsternd und wispernd auf den Gipfel, den hoffnungsvollen Ausbruch eines Rufs zu. Dann wieder Stimmungsgemälde, hohe sphärische Backing-Gesänge von fern, Synthies werden dumpfer und kommen näher, bis der Song erstirbt.

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„Bring your love down (Didn´t I)“

Größer könnte der Kontrast zweier Takes nicht sein: Disco-Funk at its best und mit seiner harten Diktion den Stil des Nachfolge-Albums vorwegnehmend. Flotte Synthies, monotoner Beat, knappe Übergänge. Trotz hübscher Ohrwurm-Melodie kann Moyet vokal nichts „Schwarzes“ einbringen: hier wird nicht erzählt, es geht nicht um Atmosphäre, sondern alles konzentriert sich auf den Moment. Eingefügte Sprechtexte lockern auf, und ein variationsreich ausgewalzter Refrain liefert das Fade Out.


Ein Nachruf

Soviel zur „Upstairs at Eric´s“. Der Yazoo-Epilog kann nahtlos ansetzen, denn noch vor Beginn der Aufnahmen zum zweiten Album „You and me both“ (veröffentlicht im Juni 1983) war die Trennung des Duos beschlossene Sache, obwohl der kommerzielle Erfolg vermutlich angedauert hätte. Aber die Faszination des Neuen hatte sich verflüchtigt, der Erwartungsdruck nahm der Arbeit die Unbelastetheit, Vince Clarke war einmal mehr zermürbt vom Tour-Streß (1982 im Anschluß an die „Upstairs at Eric´s“ durch Großbritannien), und Alison Moyet entwickelte immer mehr Selbstbewußtsein, bis die auseinanderklaffenden Anschauungen schließlich das Projekt sprengten. „You and me both“ enthielt die bittersüße Perle „Nobody´s Diary“ und verstärkte Motown-Anklänge mit souligen Backing-Chören. Der melodische Einfallsreichtum und die abwechslungsreiche Gestaltung waren dieselben wie auf dem Debüt-Album, doch die experimentelle Frische war dahin, die Songs konventionell und schematisch konzipiert und mechanischer umgesetzt, kein von gängigen Schranken entbundenes Ausufern in stilistisch-strukturelles Neuland mehr. Das Projekt „Yazoo“ war am Ende. Clarke arbeitete zunächst mit diversen Formationen, deren Existenz sich gerade noch anhand jeweils einer Single-Veröffentlichung nachweisen läßt (mit The Assembly und mit Paul Quinn), bis er 1985 mit Partner Andy Bell „Erasure“ gründete.

Moyet startete 1984 eine furiose Solokarriere mit erklassigem Pop, den sie mit ihrem selbstbewußten Blues-Gesang dominierte. Auch als Jazz-Sängerin erntete sie Auszeichnungen, doch Ende der 80er verebbte der Ruhm der Alison Geneviève, genannt „Alf“.

Wirkliche Kunst hat etwas Zeitloses, und die „Upstairs at Eric´s“ klingt selbst nach Jahr und Tag noch immer taufrisch. Nachahmer fand das Experiment keine, auch die Protagonisten selbst versuchten keine Wiederbelebung, die im Alleingang ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Es bleibt die Erinnerung an eine aufregend neue und hochklassige Kooperation, die sich schneller verflüchtigte als eine Sternschnuppe!

Yazoo
Upstairs At Eric's
Mute, 1982

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