Wir sehen zunehmend egoistischen und zynischen Zeiten entgegen

Ein Roman im Internet? – Der Schriftsteller Ilja Trojanow sieht darin keinen Widerspruch und legt mit „Autopol„ein respektables Werk vor

Einem Schriftsteller bei der Arbeit zuzusehen, ist eine spannende Sache. Von März bis August diesen Jahres konnte der Internet-Nutzer Ilja Trojanow (32) beim Schreiben des Science-Fiction-Romans „Autopol“ beobachten. Der Roman, vor kurzem bei dtv premium erschienen, ist das jüngste Werk der sogenannten Web- Literatur: „Novel in Progress“ (fortschreitende Geschichte) nennt beispielsweise das ZDF sein Web- Literatur-Projekt. Ilja Trojanow sprach mit Hinternet-Mitarbeiter Martin Schrüfer in München Ende November über die düstere Zukunftsvision seines Buches und über Literatur im Internet.

Hinternet: Herr Trojanow, wie sind Sie zu dem Projekt Novel in Progress“ gekommen?

Trojanow: Das ZDF hat mich eingeladen. Ich war der zweite. Der erste, der das Projekt betreute, war Joseph von Westfalen, der hat aber nur Texte ins Netz gestellt. Ich habe von anfang an gesagt, daß ich das nur mache, wenn das Internet als Form genutzt wird. Nur Texte darzustellen finde ich idiotisch. Die Online-Redaktion signalisierte Bereitschaft, mir bei den Fotos, den Videoclips und der Musik zu helfen. Das zweite war, daß ich mich mit der vorhandenen Erzählstrukturen im Internet beschäftigte. Ich hatte zuvor wenig Ahnung, habe mir dann ein paar Bücher gekauft und einige Zeit vor dem Bildschirm verbracht und mir angeschaut, was es da alles gibt. Was mir sofort aufgefallen ist, daß alle bisherigen Hypertext-Geschichten sehr elitär sind. Dort wird eine sehr anspruchsvolle, avantgardistische Literatur betrieben, teilweise gelungen, teilweise nicht. Das Internet wurde aber noch nicht für populäre Literatur genutzt. Ich fand es spannend, ob man zwei beliebte Gattungen · Science-Fiction und Thriller · im Internet realisieren kann.

Hinternet: Hatten Sie die Idee zu Autopol“ oder war die schon vorgegeben?

Trojanow: Nein, die war nicht vorgegeben.

Hinternet: Während des Projekts, wie sah da eine normale „Autopol-Woche“ aus? Waren Sie täglich online?

Trojanow: Nein, ich habe jede zweite Woche eine Diskette geschickt, auf der waren die Regieanweisungen, zum Beispiel Links oder Bilder. Ich habe dann auch jeweils eine Kritik des Bestehenden geschrieben.

Hinternet: Konnte der Internet-Nutzer in der Zeit dazwischen an der Geschichte weiterschreiben?

Trojanow: Nein, das ging nicht. Es gab eine Art Treffpunkt auf der Homepage des ZDF, wo Kritik geäußert werden konnte. Interaktivität ist ein Element der Diskussion, das für mich nicht interessant ist. Ich gehe davon aus, daß die Leute künstlerisch tätig sind, die das Talent dazu haben. Ich glaube nicht, daß man überall in allem mitreden und mit seiner begrenzten Kompetenz sich einmischen sollte. Die Erfahrungen gibt es auch im Theaterbereich: Stücke, die das Publikum miteinbeziehen, scheitern fast immer.

Hinternet: Wie intensiv war der Dialog zwischen den Nutzern und Ihnen?

Trojanow: Am Anfang gab es wenig Dialog. Die Leute sind das nicht gewohnt. Wenn Sie etwas lesen, erwarten sie, daß das fertig ist. Als nun etwas unfertiges im Netz stand, meinten einige: `Was ist denn das für Unsinn`. In den ersten Monaten waren die Reaktionen überwiegend negativ, da wurde das Prinzip zu wenig verstanden.

Hinternet: In welchem Zeitraum lief das Projekt?

Trojanow: Von März bis August diesen Jahres.

Hinternet: Im Vorwort der neuen Novel in Progress schreibt der Autor: „Einen Roman im Internet zu schreiben, das war bis vor einigen Monaten so ziemlich das letzte, das ich mir vorstellen konnte, ein Widerspruch in sich“. Wie fällt jetzt, nach dem Abschluß, ihr Rückblick aus?

Trojanow: Ich bin sehr experimentierfreudig. Ich bin von anfang an ohne Vorurteile gewesen, dachte nicht, daß es unmöglich ist, einen Roman im Internet zu schreiben. Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren in Deutschland bin ich auch nicht technikfeindlich eingestellt. Die Diskussion über den Verlust der Arbeitsplätze ist ein Beispiel. Die Tendenz ist da, daß uns die Automatisierung verderbe. Das ist meiner Meinung nach Unsinn. Ich denke, entscheidend ist die Frage, was wir aus der Technik machen. Den Mißbrauch der Technik kann man nicht ihr selbst ankreiden. Die Vorstellung, daß dadurch zum Beispiel stumpfsinnige Arbeit ausstirbt, finde ich glorreich.

Hinternet: Also gibt es für Sie keinen Widerspruch zwischen Präsenz im Internet und dem Schreiben eines Romans…?!

Trojanow: Nein, den gibt es auch nicht, der kommt immer von außen. Man ist nur nicht gewohnt daran, da können falsche Vorstellungen entstehen.

Hinternet: Wie intensiv nutzen Sie das Internet?

Trojanow: Ich habe festgestellt, daß fantastische Recherchemöglichkeiten bestehen. Auch der Kontakt über E-Mail hat mir vieles erleichtert.

Hinternet: Was halten Sie von anderen Literatur- Projekten im Internet?

Trojanow: Ich glaube, die Entwicklung steckt in den Kinderschuhen. Wenn man sich die ersten zwanzig Jahre des Films anschaut, da wurden Filme gedreht, die sich heute keiner mehr anschaut. ähnlich ist es hier. Es muß Zeit verstreichen. In der Kunstgeschichte gibt es die Phasen der Produktion und der Rezeption. Die Rezeption steht noch aus. So wie früher die schnelle Schnittfrequenz beim Fernsehen die Leute überforderte, besteht auch heute in der Rezeption Gewöhnungsbedarf. In zehn bis fünfzehn Jahren werden zwar die textlastigen Projekte nicht im Internet Platz finden, aber wenn ich mir überlege, was heute ein Film kostet · Im Internet ist das viel billiger. Da sehe ich die Chancen darin, daß Ideen im Internet entwickelt und präsentiert werden.

Hinternet: Glauben Sie, daß mit zunehmender Bedeutung des Internets ein Verdrängungswettbewerb unter den klassischen Medien einsetzt?

Trojanow: Nein, trotz der Einführung des Fernsehens zum Beispiel ist keine Kunstform ausgestorben. Selbst die Oper nicht.

Hinternet: In der Presse wurde ihr Roman als fröhliches Experiment“ bezeichnet. Vermissen Sie die Auseinandersetzung mit dem an sich brisanten Inhalt des Buches?

Trojanow: Ja, darauf wird nicht eingegangen. Es wird nur über die Form und die Entstehung geschrieben.

Hinternet: Ärgert Sie das?

Trojanow: Ich denke, daß Science-Fiction immer eine Warnung darstellt. Die Warnung in dem Buch ist sehr reell. Grundsätzlich ist die westliche Gesellschaft dabei, das Gemeinschaftliche, das Soziale zurückzudrängen. Dazu gehörte, daß versucht wurde, Kriminelle zu heilen, zu rehabilitieren. Noch sind wir so sehr in diesen demokratischen Traditionen so sehr verhaftet, daß wir uns das `Kopf ab!` nicht mehr leisten können, aber in den USA zum Beispiel wächst die Zahl der Exekutionen exponentiell an. Die Gefängnisse werden immer brutaler. Kaum einer denkt mehr daran, daß die Insassen in die Gesellschaft zurückgebracht werden sollen. Das andere ist, daß wir alle Giftstoffe produzieren und kaum jemand etwas dagegen hat, daß diese Stoffe hergestellt werden. Ähnlich ist der Fall bei Sexualstraftätern, es ist in Deutschland fast unmöglich, einen Ort für die Ansiedlung einer Klinik zu finden. Jeder sagt: Nicht bei uns. Zwar besteht der Konsens, daß mit ihnen psychiatrisch und straftechnisch umgegangen werden muß, aber keiner will etwas damit zutun haben. Das liegt daran, daß wir zunehmend zynischeren und egoistischeren Zeiten entgegen sehen.

Hinternet: Wo sind ihrer Meinung nach die Grundlagen dieser Entwicklung?

Trojanow: Geschichtlich gesehen, ist das nicht das erste Mal. Das führte immer zu einem großen Knacks, zu Revolutionen. Nach einem längeren materialistischen Zeit geht meiner Meinung nach das soziale Handeln allmählich verloren. Leider hat sich gezeigt, daß die Leute erst, nachdem sie niedergetreten sind, erwachen. Es gibt den Kompromiß zwischen Staat und Wirtschaft, nicht überall zu automatisieren. Diese künstliche Verhinderung von Fortschritt läßt sich aber nicht am Leben erhalten. Das wird zu großen Protesten führen. Die Arbeitslosen haben wir ja abgeschrieben. Andererseits definiert sich unserer Gesellschaft ja fast ausschließlich über den Arbeitsplatz.

Hinternet: Beschäftigen sie sich intensiv mit dem Thema?

Trojanow: Die Geschichte der Massenbewegungen hat mich immer interessiert. Das sogenannte Lumpenproletariat hat immer den Ausschlag gegeben. Klar haben Intellektuelle den Schwung genutzt und sich an die Speerspitze gestellt, aber alle Revolutionen gewannen Dynamik durch eben dieses Lumpenproletariat. Sten Rasin sagt in dem Roman `Wir waren ja so gut wie tot, wir haben nichts mehr zu verlieren“.

Hinternet: Ist die Nichtbeachtung des Inhalt typisch für die Medien in Deutschland?

Trojanow: Ja, solche Themen werden ja nie behandelt. Es ist Zeichen der Krankheit, daß durch die Auseinandersetzung mit den Themen keine Visionen entwickelt werden. Vor kurzem las ich zum ersten Mal die Frage in einer Zeitung: Was kommt nach dem Kapitalismus?“ Wir leben so, als sei der Kapitalismus ewig dauern wird. Das ist absurd, jeder redet von den unglaublichen Revolutionen in der Technik, gleichzeitig ist man der Ansicht, daß ein System überdauern wird, das durch die industrielle Revolution geschaffen wurde.

Hinternet: Glauben Sie an die Überwindung dieser Hindernisse?

Trojanow: Ja, aber ich befürchte, daß es nicht ohne Gewalttätigkeiten abgehen wird. Leider trennt sich niemand freiwillig von seinen Besitzständen, das wird zu Konflikten führen. Der Sozialvertrag, auf den die deutsche Gesellschaft so stolz ist, ist dabei, aufgekündigt zu werden.

Hinternet: Haben Sie noch Vertrauen in die Politik?

Trojanow: Das hatte ich noch nie. Für mich war Politik nur eine Maskerade für die Interessen der Herrschenden. Diese Maskerade ist unterschiedlich ausgeprägt. Eine täuscht ein hohes Prinzip an Egalität vor, das ist die Demokratie, andere Maskeraden betonen die Nichtnotwenigkeit der Mitsprache. Im Ostblock wurde mit dem Satz `Das Volk ist sowieso an der Macht“ die Mitsprache beendet. Trotzdem hatten es diese Staaten für nötig gehalten, Parlamente einzuberufen und Wahlen abzuhalten. Das sind zirkushafte Formen, die scheinbar immer wieder gebraucht werden. In Deutschland gibt es nicht mehr viele Unterschiede in den Programmen der Parteien, selbst bei den Grünen wird der alternative Flügel an den Rand gedrängt, mit der Begründung, an die Macht kommen zu wollen. Das führt den Demokratiegedanken ad absurdum. Wenn man sich an das Gängige anpassen muß, um an die Macht zu kommen, kann ich keine Alternative bieten.

Hinternet: Manchmal holt die Realität die Literatur ein: In Nordrhein-Westfalen wehrte sich vor kurzem eine Kleinstadt gegen die Ansiedlung einer forensischen Klinik. Wie erlebten Sie den Vorfall?

Trojanow: Ich hatte da eine Lesung, und keiner kam. Als ich dann nachfragte, woran das lag, wurde mir erklärt, daß die ganze Stadt, bis auf die Kinder, sich gegen die forensische Klinik wehrte. Das wurde so intensiv abgeblockt, das fand ich unglaublich, das war fast schon faschistoid. Dort wurde nicht mehr argumentiert und nur nein“ gesagt. Genau das wollte ich mit Autopol“ ansprechen.

Hinternet: Abschließende Frage: Wie sind ihre Pläne für die Zukunft, wie geht`s weiter?

Trojanow: Was das Internet angeht, will ich es beim Schreiben meines nächsten großen Romans nutzen. Zum einen zur Recherche, zum anderen als Kommunikationsforum. Ich will ausprobieren, wie das Feedback ausfällt.

„Autopol“-Rezension