Wie wurden wir Anfang der 80er vom britischen Pop-Duo ABC belehrt? Don´t judge a book by its cover! Diese Weisheit half mir jüngst, die Überraschung zu verarbeiten, die mir ein 28jähriger Sänger-Gitarrist aus Portland/Oregon bereitete: Elliott Smith. Eifrige Kinogänger und Oscar-Verleihung-Gucker kennen ihn im Zusammenhang mit dem Film „Good Will Hunting“, und sie hätte es sicher nicht ganz so kalt erwischt wie mich.
Man muß sich das vorstellen: auf dem Cover ein Typ – pockennarbig, mit Baseballkappe und speckigen Koteletten, auf dem Oberarm die Milka-Kuh eintätowiert, Fluppe zwischen den Fingern und im Gesicht die Andeutung eines verschlagenen Lächelns – das Ganze zudem noch im üblen Latrinen-Ambiente mit vollgekritzeltem Spiegel und Holzstuhl. Kurz: das freundliche Wrack, dem man beim Rausgehen aus einer öffentlichen Toilette 20 Pfennig in den Teller legt.
Aber dann: aus den Boxen klingt die sanfteste Stimme zu den sonnigsten Harmonien und schönsten Melodien ever. Die zarteste Versuchung, seit es akustische Gitarren gibt. Wie die Beatles in ihren besten Zeiten, und das als Konzentrat! (Teer´ und Feder mich, Harald, oder Schick die spanische Inquisition, aber ich bleib dabei!)
Man kann natürlich auch die Verbindung zur amerikanischen Westcoast bemühen, aber für mich ist das britischer als alle Brit-Popper zusammen, dazu ein Schuß Psychedelic und ein Grunge-Silberstreif am Horizont.
„Verschroben“ nennt man sowas wohl, wenn bei aller Schönheit doch etwas Befremdendes bleibt. Über das positive Potential von Beunruhigungen sprach ich schon in meiner Continental-Drifters-Rezension (nein, da sprach ich mehr von der „Unfähigkeit, zu beunruhigen“ – ein Defizit, dem auch das Ehepaar Mitscherlich einst einige Zeilen widmete…), jedenfalls: Elliott Smith vermag sehr wohl zu beunruhigen. Seine Songs haben etwas Zerbrechliches, Bedrohtes und Bedrohendes gleichermaßen. Und sie sind traurig, von gebrochener Schönheit also. Es ist doch immer wieder das gleiche: kranke Hirne (mal überspitzt gesagt), denen furchterregend schöne Dinge entspringen. Unversehrte Kunst, geschaffen von versehrten Seelen. Und wir ergötzen uns daran: ein Faszinosum, so alt wie die Welt oder zumindest so alt wie der Rock´n´Roll. Sei es drum, Eingeweihte wissen, was ich meine.
Noch ein Wort zur Kategorisierung, die ist nämlich erfreulicherweise im Falle Elliott Smiths nicht so einfach (dem Album-Titel zum Trotz). Von der Optik her ist er ein Freak, von der Musik her ein Singer/Songwriter – nee, stimmt nicht. Er ist nur ein Sänger und Songschreiber, aber ein erstklassiger. Und daß er selbst die Titulierung als Singer-Songwriter ablehnt, macht ihn sofort sympathisch. Ich kann das nur unterschreiben: mit dem ausgelutschten Jeans-und-T-Shirt-Selfmademusiker-Klischee hat Smith nichts zu tun. Aber wer aussieht wie der Sänger von The Verve nach zwei Wochen Waschverbot und seine CD nach einen Werk von Kieerkegaard nennt, braucht sich auch keine Sorgen darum zu machen, mit hemdsärmeligen Gralshütern in einen Topf geschmissen zu werden.
Mag auch der Sound nicht gerade Smiths Äußerem entsprechen – die Texte zumindest halten, was die Optik verspricht: düster, sarkastisch und zweifelnd. Also doch keine Vollmilch, sondern Zartbitter. Aber wenigstens ohne erhobenen Zeigefinger oder irgendwelche wichtigtuerischen Missionen. Einfach nur ein wunderschönes, leise und beharrlich fließendes, winziges (knapp 37 Minuten langes) Gitarrenpop-Meisterwerk. Falls ich einmal ertaube, soll dies die letzte CD sein, die ich mir vorher noch reinzieh´.
Elliott Smith: Either/or
(Domino/Rough Trade)