Gérard Herzhaft: Enzyklopädie des Blues

Zugegeben, ein aktuelles Lexikon zum nicht totzukriegenden Phänomen „Blues“ war längst überfällig. Vor allem in deutscher Sprache gab es außer Dieter Molls „Buch des Blues“ kein brauchbares, zudem noch lieferbares Nachschlagewerk. Dieses Manko will nun diese „Enzyklopädie“ (ein anspruchsvoller Begriff!) beheben. Und will man den Presse-Besprechungen der letzten Wochen und Monate folgen, so scheint sie diesen Anspruch auch voll einzulösen. Ich hege allerdings nach der punktuellen Lektüre so meine Zweifel.
In der Tat ist der französische Publizist und Musikologe ein wahrer Kenner der Materie: Er beschäftigt sich seit drei Jahrzehnten mit dem Blues und seinen Exponenten und recherchierte auch „vor Ort“, sprich in den USA.

Und da fängt für mich schon ein Problem an. Herzhaft nimmt eigentlich „nur“ den sog. „authentischen“ Blues der Afro-Amerikaner wahr, so nach dem Motto, „nur wer schwarz ist, kann auch echten Blues leben und interpretieren.“ Natürlich benennt er dieses Klischee so nicht explizit. In den zwischen den alphabetisch angeordneten Biographien eingestreuten Sachartikeln (u. a. zu Labels, Instrumenten, Regionen, Städten, Stilen) finden sich auch ganze zwölf Seiten zum „weißen Blues“ weltweit (inklusive einem dreiseitigen Beitrag „Der Blues im deutschsprachigen Raum“ von Thomas Gutberlet), und da bekennt Herzhaft durchaus, daß auch Weiße „den Blues haben“ können.

Ein eigenes Kapitel zum Genre „Blues-Rock“ fehlt im übrigen. Im Abschnitt „Der elektrische weiße Blues in Amerika“ würdigt er immerhin (fünf) Musiker wie Paul Butterfield und Johnny Winter sowie 1 – in Worten: eine – Band, nämlich CANNED HEAT. Deren Zusammenarbeit mit John Lee Hooker z. B. bleibt unerwähnt, ebenso fehlt der Hinweis auf Al Wilsons Tätitgkeit als (wissenschaftlicher) Blues-Forscher. Enttäuschend empfinde ich auch das (im doppelten Wortsinne einseitige) Kapitel „Der britische Blues“. Originalton Herzhaft: „Es ist nicht unbedingt nötig, in dieser ENZYKLOPÄDIE DES BLUES Namen wie Mayall, Clapton, Peter Green (und warum nicht auch die Rolling Stones?) einen eigenen Abschnitt zu widmen. Wenn auch ihre Karrieren im Blues begonnen haben, so haben sie sich doch später weitgehend dem Rock zugewandt. In Werken, die sich ausführlicher mit der Rockmusik befassen, finden sich genügend Artikel über diese Musiker.“ Woher weiß er denn das so genau? Auf die STONES und auch Clapton mag diese Einschätzung zutreffen, aber was ist mit Mayall, der zum Blues ebenso zurückgefunden hat wie auch Peter Green. Und was ist mit Alexis Korner, Duffy Power, Chris Farlowe, Carol Grimes, Maggie Bell, der BLUES BAND u.v.a.?

Kurioserweise gibt es in diesem Kapitel einen (!) biographischen Eintrag zu Jo-Ann Kelly. Wenn nur ein(e) britische/r Interpret(in), warum dann ausgerechnet sie? Auch ich habe Jo Ann Kelly als Blues-Sängerin sehr geschätzt, aber weshalb sie und andere nicht? Stichwort Jo Ann Kelly. Leider sind – wie bei anderen Lexika sicher auch – bei den Einzelbiographien immer wieder Fehler und Auslassungen festzustellen. Bei Kelly fehlt z. B. der Hinweis, daß sie am 21. Oktober 1990 verstorben ist. Herzfeld bschränkt sich übrigens nur auf Jahresdaten; angesichts der oft vagen Angaben bei schwarzen Musikern durchaus nachvollziehbar. Eine Notiz z. B. zu John Lee Hookers unterschiedlichen Geburtsjahren (von 1917 bis 1929) wäre trotzdem sinnvoll gewesen. Ebenso dem Lektor entgangen sein dürfte das fehlerhafte Geburtsjahr 1959 für den letztjährig verstorbenen Luther Allison (offiziell: 1939).

Um nicht mißverstanden zu werden: Herzhafts Buch ist trotz aller Einschränkungen eine wichtige Neuerscheinung. Konzeptionell erinnert es mich zwar an Frank Laufenbergs (oberflächliches) Pop- und Rocklexikon, denn hier wie da werden sowohl bekannte als auch weithin unbekannte Künstler vergleichsweise knapp und mit spärlichen diskographischen Angaben vorgestellt, doch weiß Herzhaft bei seinen Blues-Cracks sehr wohl kenntnisreich, dabei emotional und keineswegs unkritisch Leben und Werk zu würdigen.

Im Anhang befinden sich noch eine sicher subjektive, aber durchaus anregende Auswahldiskographie, eine umfassende Auswahlbibliographie, eine Liste klassischer Blues-Stücke, ein Musiker-Index (nach Instrumenten geordnet) und – ganz aktuell – eine Internet-Adressenliste für das Blues-Genre. Unterm Strich also in der Tat eine lohnende Lektüre für Blues-Fans, wenn man die sehr hohen Erwartungen an eine Enzyklopädie etwas zurückschraubt.

Gérard Herzhaft
Enzyklopädie des Blues
Hannibal Verlag 1998
ISBN 3-85445-132-6
363 Seiten, DM 40.

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