Frl. Katjas Nähkästchen, Folge 2

In meiner letzten Kolumne erwähnte ich Franz Lambert. Viele werden ihn kennen, nur wenige werden dies aber auch zugeben. Mich verbindet eine ganz eigenartige Beziehung zu dem Hammondorgelman, denn ich stamme aus dem gleichen Raum wie Franz Lambert, und ich erinnere mich noch gut an meine Grundschulzeit, als viele Mitschülerinnen und Mitschüler, deren Familien zu arm für ein Klavier waren, Keyboard-Unterricht nahmen. Und das taten sie „beim Franz“. Es dauerte lange, bis ich begriff, dass dies der Vorname ihres Lehrers war, denn ich selbst wär natürlich nie auf den Gedanken gekommen, meine Klavierlehrerin zu duzen! Ich war überhaupt die einzige, die den großen Franz Lambert, seinerzeit am Beginn seiner Karriere, nicht kannte. Meine Klassenkameraden guckten mich dann immer groß an und murmelten etwas von „Platten“ und „im Fernsehen“. Heute weiß ich, daß die Eltern von Franz Lambert ein Restaurant im selben Ort betreiben, in dem meine Mutter arbeitet. Meine Mutter arbeitet übrigens in einer Psychiatrie.

Auch Ricky King, der nimmermüde Soft-Gitarrenposer aus den 70ern („Le reve“) hat sich in meinem Heimatort angesiedelt, allerdings nur in einem Ortsteil namens Bonsweiher. Und auf meiner Schule hat lange vor meiner Zeit Pe Werner Abitur gemacht. Außerdem hat sie lange vor Beginn ihrer Karriere in der Band eines Nachbarn aus unserer Straße im Backgroundchor gesungen, gemeinsam mit ihrer Kollegin Sybille Ruisinger, mit der sie später das Kabarett-„Duo PS“ bildete.

Erinnert sich noch jemand an die Frankfurter Band „Okay“, deren erster (und einziger) Hit im Sommer ´88 „OK“ hieß? (Die hatten auch Wortfiles gesampelt, z. B. Ausschnitte aus der Radio-Übertragung des Fußball-WM-Finales ´54 und einen Spruch von Kermit: „Das Allerschönste, was Füße machen können, ist Tanzen“.) Der jüngere Bruder des Sängers war damals eine Klasse unter mir, deshalb hab ich auch eine „OK“-Maxi mit Widmung („Für Katja“). Heute hat dieser jüngere Bruder zusammen mit einem Typ aus meinem Französischkurs einen Indie-Plattenladen direkt neben unserer Schule („Reibach Records“).

Ach ja, und aus meinem Heimatort kommt auch ein Mitglied der Pseudo-Boy-Group „Gute Zeiten“: der blonde Look-a-like-Nick-Carter, der im Fernsehen immer behauptet, er käme aus Mannheim. Bevor mein Bruder anfing, zur Schule zu trampen, sah er diesen Sohn des früheren Frisörs unserer Mutter übrigens öfters im gleichen Schulbus, wenngleich sie auch nicht auf dieselbe Schule gingen. Im Bus saß Jochen Dapper meist etwas abseits und vollkommen unbehelligt, denn junge Grunger möchten nicht so viel mit jungen Look-a-like-Nick-Carters zu tun haben, aber beim Stop an der örtlichen Haupt- und Sonderschule, so mein Bruder, hätten immer Trauben kleiner Mädels an der Scheibe des Busses geklebt und gejauchzt.

Eine Schulfreundin von mir sah einmal Goran Ivanisevic in der für unsere Heimat-Region recht großen, wenn auch sehr prolligen, Disco namens „Bierdorf“, eine andere Schulfreundin erspähte die Schauspielerin Julia Heinemann (in der Serie „Die glückliche Familie“ die mittlere Tochter von Maria Schell und die Frau des damals noch unbekannten Söhnke Wortmann alias „Ritchie“; spielte auch mit Ralf Bauer und Hardy Krüger jr. in „Gegen den Wind“) angeblich in einer Lesbendisco. Und viele, viele Freundinnen erinnern sich noch, die Kelly Family Ende der 70er in Fußgängerzonen und im Zirkus gesehen zu haben. Angeblich hätten sie in unserem Heimatort immer ihr Winterquartier aufgeschlagen. Das klingt glaubwürdig, denn dort pflegte auch der „Zirkus Sarrasani“ zu überwintern (wenn man Glück hatte, hatte man in den kalten Monaten kleine Artisten und Schlangenmenschen in der Klasse), und das wird für alle Beteiligten sicher eine ökonomische Lösung gewesen sein, denn so zwischen den ganzen Pferden und Elefanten fielen die Kellys natürlich nicht groß auf. Dankbar ließen sie sich striegeln und nahmen täglich ihr Bündel Heu in Empfang.

Ein Freund von mir war schon mal Kandidat bei Jeopardy, und ein Schulkamerad spielte einst in der Vorgruppe der „Busters“. Juliane Werding ging auf die gleiche Schule wie meine Mutter (etwas später allerdings), ihr Cousin, ein Taxifahrer, chauffierte einnmal Heino, und im Haus seiner Mutter, also der Tante meiner Mutter, wohnte einer Legende nach die Mutter von Roland Kaiser. Eine Kollegin meines Vaters heiratete einen Ex-Lover von Connie Francis. Wenn man mal überlegt, kommt doch ´ne ganze Menge zusammen.

Der Lebensgefährte einer Freundin hat übrigens ein Label für Ska-Scheiben. Der erlebt auch nette Sachen: eines Tages wurde er von einem Mitglied einer Berliner Band in seiner Heidelberger Wohnung angerufen und nach der Telefonnummer eines weiteren Mitgliedes derselben Band, das auch in Berlin wohnt, gefragt!!! Eines anderen Tages kommunizierte er via Telefon mit einem weiteren Musiker, von dem er die Laufzeiten der Songs einer bestimmten CD erfragen wollte. Der Musiker behauptete, da stünden keine Laufzeiten auf der CD, aber sein Produzent wies ihn auf die Ziffer-Doppelpunkt-Ziffer-Kombination am Ende jedes Songtitels auf der CD-Rückseite hin. Da ging dem Musiker ein Licht auf, und er meinte: „Ach so, ich hatte mich schon gefragt, warum da immer „3 durch 24“ oder „4 durch 53“ und so stand“…

Ein anderes Thema, das mich umtreibt, ist der sogenannte „Paradigmenwechsel“. Paradigmenwechsel gehören in vielen Wissenschaften zur Tagesordnung, aber auch im Alltag. Auch ich erfahre gerade einen solchen Paradigmenwechsel in meinen Denken: bislang kommentierte ich seltsame Erlebnisse im Stillen meist mit dem Begriff „kafkaesk“. „Kafkaesk“ heißt soviel wie „strange“, und wer mal was richtig Kafkaeskes kennenlernen will, sollte vielleicht mal ein Buch von Kafka lesen. Kafka ist ohnehin ein Dauerbrenner bei hippen, etwas verschrobenen Jugendlichen und Junggebliebenen, wie ich immer wieder feststelle: damit kann man genausowenig falsch machen, wie wenn man sagt, man höre Sonic Youth oder The Jam: damit ist man entweder über jeden Coolness-Zweifel erhaben, weil die Leute selbst Sonic Youth und The Jam cool finden, oder aber die Leute kennen Sonic Youth und The Jam nicht und werden sich hüten, dies zuzugeben. Auch mit dem Nennen von Tina Turner, Bruce Springsteen, Joe Cocker etc. kann man nichts falsch machen, aber damit ist man nie wirklich cool.

Eine etwas biedere Schulkameradin und große Depeche-Mode-Liebhaberin sah mich einmal an, als würde ich mich nie waschen, bloß weil ich erwähnte, ich hörte zur Zeit Led Zeppelin. Das war die gleiche Schulkameradin, die noch nie was von Janis Joplin gehört hatte.

Aber zurück zum Paradigmenwechsel: in letzter Zeit stelle ich immer öfter fest, daß ich mich in eigenartigen Situationen weniger in kafkaeske Szenerien als vielmehr in eine Folge der Simpsons versetzt fühle. „Simpsonesk“ sozusagen! Anderen Menschen scheint es genauso zu gehen, neulich hörte ich meine Mutter in vollem Ernst zu meinem Bruder sagen: „Ach, warum kannst Du nicht ein bißchen mehr wie Lisa sein“. Der ewige Generationenkonflikt direkt vor unserer Haustür… Meine Mutter ist übrigens der Meinung, die Simpsons seien „in einigen Jahrzehnten Kult“, nicht ahnend, daß die Simpsons heute schon Kult sind!

Das vorletzte Mal jedenfalls, als ich mich wie in einer Simpsons-Folge fühlte, war bei der Abi-Feier meines Bruders. Da saß ich in ungewohnter Rolle einmal zwischen all den anderen Geschwistern, Eltern und Großeltern, immer jovial klatschend, wenn Schüler für ihr Engagement in der Caféteria, in der Lehrmittelbibliothek, in diversen Theatergruppen oder für besonders herausragende schulische Leistungen ausgezeichnet wurden. (Mein Bruder war nicht unter den Ausgezeichneten, für langes Schlafen, Trampen oder Kiffen gibt´s noch keine Auszeichnungen, überraschenderweise auch nicht für Skaten und Oversized-Hosen-Tragen.)

Wirklich simpsonesk aber war die Situation, als ich mich ertappte, wie ich mir die eigenwillige Boccherini-Interpretation des Schulorchesters schönredete: Hach ja, es mag schräg klingen, aber es ist live und von Hand gemacht, die Kinder spielen es selbst… Wer erinnert sich nicht an zahlreiche Springfielder Schulveranstaltungen, an die Leiden Lisa Simpsons im Schulorchester und an Homers Frohlocken, als er hört, daß Schuberts „Unvollendete“ auf dem Programm steht: „Au klasse, das dauert wenigstens nicht so lange!“

Übrigens hatten die Simpsons auch richtig handfesten Einfluß auf den Deutsch- und Geschichtsunterricht der 90er: in der Klasse meines Bruders hieß der Schöpfer der „Odyssee“ und der „Ilias“ nicht „Homer“ (mit „O“ und Betonung auf der zweiten Silbe“), sondern „Homer“ (mit „U“ und Betonung auf der ersten Silbe). Erstaunte Lehrer hatten da erstmal was richtigzustellen.

Mittlerweile ist mir auch nicht mehr peinlich, wenn ich – seltsam, seltsam – nach wochenlanger Beschallung mit Ronaldo-Werbespots plötzlich zwei Paar Schuhe mit dem berühmten Häkchen besitze. Homer Simpson machte derart unkritisches Verbraucherverhalten (in der Biologie bekannt als Pawlowscher Reflex) salonfähig.

Mein letztes Erlebnis, das mir endgültig klarmachte, daß sich ein Paradigmenwechsel vollzogen hatte, liegt erst wenige Wochen zurück: ich sah eine Folge von „Fliege“, moderiert vom mir schon lange suspekten Pfarrer gleichen Namens. Das Thema knapp einen Monat nach Eschede hieß „Eschede“, und da traf es sich gut, daß der Moderator aus Rade vorm Wald stammte, wo sich Anfang der 70er ein ähnlich schweres Zugunglück ereignete, das tragischerweise auch circa zwei Schulklassen das Leben kostete, darunter Freunde und Nachbarn des Moderators und natürlich auch einige seiner Lehrer. Davon berichtete er mit erstickter Stimme zwecks Einleitung der Sendung. In diese hatte er noch drei weitere Pfarrer, eine Pfarrersfrau und eine Polizeiseelsorgerin geladen. Und alle anwesenden Pfarrer samt und sonders berichteten nicht nur Erlebtes vom Unfallort, sondern auch und vor allem, wie sie selbst mit den Tränen zu kämpfen hatten, wann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnten, wo sie „einfach mitgeweint“ haben, obwohl selbst nicht unmittelbar betroffen, und an welcher Stelle ihrer Predigten sie Angst hatten, loszuheulen. Das wirklich Schlimme daran aber war dieser unendlich verständnisvolle Du-Hauptsache-wir-haben-mal-drüber-geredet-Du-Ton, ein Relikt der Psychologie der 70er, und – naja – auch einfach die Quantität dieser Mitteilungen. Echt Simpsonesk! Mir erschien spontan Reverend Lovejoy vor meinem inneren Auge, und nach einer solchen Erscheinung sieht man dieses Pfarrer-Meeting zwangsläufig mit anderen Augen.

A propos Meeting: Pfarrer gleich welcher Konfession haben offenbar so ihre eigene Logik – das mag an den Schildern vor den Seminarräumen theologischer Fakultäten liegen, auf denen zu lesen ist: „Gesunden Menschenverstand bitte draußen lassen“. Jedenfalls berichteten die Fliege-Pfarrer übereinstimmend, als welch „göttliche Fügung“(!), ja gar als welch kleines Wunder sie es spontan empfanden, daß just am Tag der Escheder Zugkatastrophe die ökumenische Diözesen-Versammlung (oder so ähnlich), an der sie und noch viel mehr Pfarrer jedenfalls teilnahmen, unweit von Eschede, nämlich in Celle, stattfand, so daß sie rasch an den Unfallort eilen und Trost spenden konnten. Auf den Gedanken, welch merkwürdiger Gott zwar ein Zugunglück mit hundert Toten geschehen läßt, aber wenigstens recht viele Pfarrer in der Nähe plaziert, sind sie nicht gekommen. Einfach simpsonesk!

Wie auch immer: es muß in einer Kolumne auch möglich sein, solch urmenschlichen, ja fast eschatologischen Fragen nachzugehen.

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