Sind das wirklich die vier milchgesichtigen Popper, die Anfang der 80er mit fröhlichem Synthie-Pop die Welt erobern wollten?!! Keine Frage, „One night in Paris“ ist ein Monument von Konzertfilm. Und es ruft unwillkürlich immer wieder die Folie von „damals“ wach – so stark ist der Kontrast.
Martin Gore hat mittlerweile ´was von einem alternden Pierrot, in Dave Gahans Gesicht haben die Drogen-Exzesse Spuren hinterlassen, und Andrew Fletcher wirkt immer noch wie ein auf die Bühne verirrter Student, der eigentlich nur beim Aufbau helfen sollte. Trotzdem ist klar: diese Band ist einer der besten Live-Acts überhaupt. Man muss sie dazu nicht aus der Nähe sehen, wie auf „One night in Paris“. Denn die Bühnensprache von Depeche Mode war immer eine aus klaren Zeichen, die man auch von Weitem gut lesen konnte. Die Silhouette von Martin Gore, ein Fels in der Brandung. Und Dave Gahan, ein umherwirbelnder Taifun, der schon lange vor Garth Brooks wusste, dass in den Stadien der Welt der Arm zur Augenbraue wird. Kleine Gesten müssen ins Große übersetzt werden.
Aber woher die riesige Präsenz kommt – die Intensität, die Depeche Mode auf der Bühne auszeichnet -, das kann auch Anton Corbijn nicht erklären. Will er vielleicht auch gar nicht, soll ruhig ein Geheimnis der Band bleiben. Und der Zuschauer darf mit offenem Mund dasitzen und staunen: da sind drei Menschen, die auch nach 20 Jahren Hitgeschichte immer noch erkennbar aus Basildon kommen. Aus der Provinz eben. Nicht aus London, New York, oder wo sie sonst so leben, mittlerweile.
Irgendwie ist das ein Faszinosum: anders als die Rolling Stones sind Depeche Mode nie zu glamourösen Monstern geworden. Auch nicht zu sexy Bühnenmaschinen. Haben immer noch was von einer Schülerband, auch wenn die Gelassenheit und das Selbstbewusstsein unübersehbar sind. Und Anton Corbijn führt es in ruhigen, unaufgeregten Bildern vor Augen. Keine schnellen Schnitte, keine wilde Perspektiven, keine voyeuristische Einblicke – einfach nur ein ruhiger, langer Fluss, der der Band nicht die Show stiehlt. Das tut allenfalls mal der spektakuläre Bühnenhintergrund. Auch das eine Sache, für die Depeche Mode bekannt sind und die man nicht anders als im Film zeigen kann. Riesige Regentropfen, tiefrote geometrische Figuren oder einfach nur ein Himmel, vom Grund des Grand Canyons aus betrachtet, im Zeitraffer. Atemberaubende Bühnenkunst, die die Musik perfekt einbettet, Stimmungen erzeugt, die Band immer noch gut ins Bild setzt und nie manieriert wirkt! (Merkt Euch das, Pink Floyd. Denn dass Leinwände nicht nur dafür da sind, die Band in Aktion zu zeigen, wussten ja schon andere Engländer früher…)
Wer Depeche Mode kennt, der weiß, dass sie eines der treuesten Publikume haben, die es überhaupt gibt. Und dann weiß man, dass auch dieses Publikum an solchen Konzert-Dokumenten seinen Verdienst hat. Aber letztendlich wollen die Fans ja nicht nur was sehen, sondern vor allem hören. Und das führt zurück zum Anfang des Artikels: zwanzig Jahre Depeche Mode lesen sich musikalisch mindestens so spannend wie 40 Jahre Rolling Stones.
„One night in Paris“ ist natürlich Wegmarke der Zeit ab Anfang der Neunziger. Als Depeche Mode zu einem schwebenden, düsteren Sound gefunden hatten, der trotzdem noch romantisch und poptauglich klang. Wie „Freelove“ und „I feel you“ zum Beispiel. Aber die Reihe reicht zurück über etlicheSongs aus „Violator“ bis hin zu den 80er-Smash-Hit „Black Celebration“ und „Never let me down again“.
Die Depeche Mode-Karriere im Zeitraffer von 20 Stücken, für Fans ein Muß, für DM-Aufgeschlossene ein entschiedenes Kann. Die zweite DVD ist dann noch vollgepackt mit all dem Bonusmaterial, das manchmal DVD-Käufern wichtiger zu sein scheint als der eigentliche Filme/das eigentliche Konzert: Backstage-Impressionen, Interviews, Erläuterungen von Anton Corbijn zu seiner Arbeit und seine Bühnenprojektionen, auf dass es künftige DepMod-Nachspielbands etwas leichter haben.