La Linea 1

Ich hab gestern abend fast zwei Stunden lang eine Linie angeguckt. Hör ich da schon die Pfleger, die mich gleich abholen kommen? Ja, wahrscheinlich. Denn dieser Abend war auch ein Selbstversuch: wie lange ertrage ich einen bewegten Strich, der cholerische Ausbrüche kriegt, wenn irgendwas nicht nach seinem Gusto läuft?

Ziemlich lange. Und es geht mir wunderbar dabei. Denn die Linie ist natürlich La Linea. Das kleine Knollenmännchen, das nur aus einem weißen Umriss besteht. Jeder kennt es: es schlendert immer auf einer weißen Linie entlang, die eigentlich eine Fortsetzung von ihm selbst ist. Im Hintergrund wechseln die Farben, es klimpert lustige Jazzmusik, und aus der Linie wachsen die unmöglichsten und überraschendsten Dinge: eine Treppe, ein Fernseher, Tiere, Frauen, Wellen, Gitter und – Löcher! Ende Gelände. Dann kann das Strichmännchen nicht weiter, denn ohne Linie kein La Linea! Und schon geht das wütende Gezetere los. Geduld ist nicht die Sache des Männchens. Erst wenn die Hand des Zeichners erscheint und die Linie verlängert, kehrt wieder Ruhe ein.

Der Fairness halber muss man sagen: manchmal freut sich das Männchen auch. Wirft Kusshände und kichert vergnügt, bevor es sich wieder von rechts nach links auf der Linie in Richtung Abenteuer stürzt. Und als Zuschauer freut man sich mit. Denn La Linea ist Minimalismus und ganz große Kunst. Osvaldo Cavandoli ist der Zeichner, der Ende der 60er die Idee hatte, zweidimensionales Fernsehen zu machen. Hier gibt´s keine Tiefe. Nur den Strich und eine Farbe. Und die Eigengesetzlichkeiten des Cartoons. Da entpuppen sich die typischen Mengenlehre-Accessoires – Quadrat, Kreis, Recht- und Dreieck – plötzlich als Schlagzeug. Leider ist der Lärm so markerschütternd, dass die Linien porös werden und das Männchen einfach wegbröckelt. Oder es badet in einer Schüssel – an die der Zeichner, schwupp, einen Henkel dranmalt, und schon wird ein Pisspott draus. Aus dem das wütende Männchen schnellstmöglich aussteigt.

Überhaupt, die Kommunikation mit dem Zeichner… Hier wird Freud und Leid einer ganzen Branche exemplarisch ausgelebt. Wer lässt sich schon gern von seinem eigenen Geschöpf rumkommandieren? Aber man ist nun mal aufeinander angewiesen. Das verhindert allerdings kleinere Kollisionen nicht. Wer sehen will, wie das Männchen seinem Schöpfer in den Finger beißt und auf welch politisch inkorrekte Weise der sich rächt, sollte sich unbedingt die La Linea-DVD besorgen. Übrigens die erste von geplanten drei Folgen.

Sie enthält über dreißig Linea-Episoden plus einige Bonus-Bilder, die Vorstadien der Produktion zeigen. Die Musik stammt hauptsächlich von Franco Godi, bekannt durch Herrn Rossi. Und wem La Linea als Pausenfüller im Fernsehen immer zu kurz war, für den ist das hier genau das Richtige: fast zwei Stunden gepflegte Linien-Unterhaltung. Stylish, zeitlos elegant und einfach immer wieder verblüffend durch seine Einfachheit und Rafinesse. Das Experiment kann beginnen.