Folge XXIX: Zum Tod von Chlodwig Poth
Das war ein schneller, erfolgreicher Beutezug. Anders als die mäandernde Pfarr-Suche. Kurs aufs Bücherregal, dann anpeilen und, zack, zuschlagen. Eine kleine Poth-Bibliothek konnte ich ausheben. Allein bei den Cartoons. Halt, er hat doch auch… ja, hat er: oben, bei der Prosa, sogar noch ein Poth-Roman. Plus im Regal-Parterre: etwas Großes, furchtbar Schweres. Mit den berühmten Wimmelbildern. Was will mir das sagen? Mehrerlei.
Zum Beispiel, dass Poth zu meinen Lieblings-Cartoonisten zählt. Dass er mich seit Kindertagen begleitet. Wenn Kinder zu Besuch bei Erwachsenen sind, freuen sie sich ja immer, wenn sich dort Bücher mit Bildern finden. Und die Poth-Menschlein sahen immer lustig aus. Diese schnoddrig gezeichneten, hageren Jeans-Gestalten. Mit endlos langen Beinen. Und manchmal spitzen Brüsten.
Immer wieder tauchten die Poth-Bücher auf. Bei meiner Tante. Bei meinen Eltern. Heute hab ich meine eigenen. Bewiesen durch kleine Bleistiftnotierungen auf Seite 3: 2,50. Oder einfach nur: 2. Selbstgekauft. Im Antiquariat. Noch zu D-Mark-Preisen.
Sicher, warum Griechenland eine KZ-Insel sein sollte, verstand ich früher noch nicht. Auch nicht, weshalb Fürze marxistisch, reflektiert und dialektisch begründet zu sein hatten. Aber diesen an seinem „progressiven Alltag“ verzweifelnden, vollbärtigen T-Shirt-Vater mit den Knopfaugen verstand ich. Ein Vater, der sich ständig Eigentore schoss. Beim Versuch, den 68er-Ideologie-Chic ins Bürgerleben zu importieren. Ja, auch mein viele Jahre jüngerer Bruder erfreute sich in meinem Zimmer an Büchern mit Bildern. Wenn er „Zu spät, mein Lieber, zu spät“ in Konversationen einfließen ließ, wusste ich sofort, welchen Poth-Cartoon er meinte.
Wer auf charmanteste Weise von den 68er-Sehnsüchten, -Bequemlichkeiten und -Widersprüchen erfahren wollte, musste Poth lesen. Mit krakeligen Strich-Versammlungen entlarvte er die Versuche, den eigenen Pelz trockenzushamponieren. Stets so, dass man scheinbar überlegen über „die anderen“ lachen konnte. Bis man merkte, dass man selbst hinterm Vollbart steckte. Dem Vollbart an sich. Dem Vollbart in uns.
Ja, die Taschenbücher aus den 70ern sind meine liebsten Poths. Von Rororo, mit rauhem Papp-Umschlag, fast broschiert wirkend. Was daran liegen könnte, dass der Einband mit den Jahren biegsam und speckig wurde. Darin: vielgestaltige Variationen des immergleichen Themas (s.o.). Kleine Humoresken in sechs bis acht Bildern. Randlos, fahrig gezeichnet, lapidar und schmucklos durchnumeriert, Schraffuren als Erdung, damals schon wimmelig. Aber einen angsterregenden Sog entfaltend. Man musste sie alle lesen. Ahnend, worauf jede einzelne hinauslief: der Olympia-Gucker, der eben doch für „Deutschland“ sein dürfen wollte. Der die Arbeiterschaft preisende Vater, der für den Sohn aber Abitur wünschte. Der Vater, der im Kampf gegen den Weihnachtsterror am Ende natürlich geschenklos litt. Und der es dann doch nicht so toll („Und wenn schon! Kann er nur was von lernen.“) fand, vom Sohn beim Sex überrascht zu werden: „Dacht ich mir noch, dass Ihr´s stinknormal bürgerlich macht.“ Ein ewiges, sisyphos´sches Scheitern. Poth, nicht müde werdend, dem Leser das böse Ende vorzuführen.
Galliger wurde er mit den Jahren, schien mir. Das „Katastrophenbuch“, ohne den T-Shirt-Vater und dessen ehrlicheres Pendant (den vollbartlosen Spießer-Vater aus „Ellternalltag“) auskommend. Nicht nur wegen des Hochglanzeinbands nicht ganz so speckig und biegsam. Der Prosa-Roman, höchstens angelesen. Das große Buch mit den Wimmelbildern, aber auch reichlich Strips: „50 Jahre Überfluss“. Ein BRD- und Entwicklungsroman. Dann: „Letzte Ausfahrt Sossenheim“ in der Titanic. Kryptische, wenn auch gewaltige Seiten von fast alttestamentarischem Ingrimm. Ein Reich allerdings, zu dem ich einfach keinen Schlüssel fand. Und das frustrierte. An die „Alltag“-Bücher kamen sie für mich alle nicht ran. Die waren meine Stars.
So sehr, dass meine Bibliothek noch eine andere Geschichte erzählt: die eines gescheiterten Magisterarbeits-Themas. Der Wilhelm Busch-erprobte Dozent hatte schon zugestimmt, aber Poth verweigerte sich. Was ließ sich nur erzähltechnisch aus den kurzen, komprimierten Strips herauslesen? Nichts, hatte ich den Eindruck. Jedenfalls nicht mit meinen Werkzeugen. Das schien mir dann doch eine Sache für Kunstwissenschaftler oder Soziologen zu sein.
Insgeheim aufatmend schaufelte ich mein Thema um. In Richtung eines weniger innig geliebten, aber üppig erzählenden Comics. Ein willigeres Sektions-Objekt. Uff. Gerettet. Nicht auszudenken, wie die Magisterarbeits-Fußfesseln Poth und mich über Monate aneinandergekettet hätten. Der Weg zum Scheidungsrichter wäre vorgezeichnet gewesen. Aber so: alles noch mal gutgegangen. Nichtmal der Tod kann uns scheiden.