Ein Buchstabierwettbewerb deckt das Geheimnis einer scheinbar intakten Familie auf. Myla Goldbergs „Buchstabenprinzessin“ ist eine beklemmende Studie über Besessenheit, Einsamkeit und mystische Sehnsucht
Harmlos sollte ihr Roman beginnen, heiter, sonnig wie eine Reader´s Digest Geschichte, sagt Myla Goldberg, und immer dunkler, befremdender werden. Die Schriftstellerin aus Brooklyn, die ein Jahr in Prag gelebt und Englisch unterricht hat, und sich in New York mit Aushilfsjobs durchs Leben schlug, gilt seit drei Jahren als neue, ungewöhnliche Stimme, als große Hoffnung der jungen amerikanischen Literaturszene.
„Bee Season“, ihr hochgelobtes Debüt von 2001, das mit Richard Gere und Juliette Binoche gerade verfilmt wird, erscheint jetzt, übersetzt von Christiane Buchner und Martina Tichy, im Kindler-Verlag. „Bee“ bedeutet im Englischen Buchstabe, Biene, aber auch Tick, Spleen, ein kluger Titel also, der im Deutschen süßlich-dümmlich zu „Die Buchstabenprinzessin“ verkommt.
Der Titel täuscht. Denn der Roman ist alles andere als eine heitere Geschichte über das Erwachsenwerden, mehr als nur das Porträt der eher durchschnittlich begabten neunjährigen Eliza, die – zur Überraschung ihrer Familie, die sie nie für etwas Besonderes hielt – auf höchster Ebene Buchstabierwettbewerbe gewinnt.
Goldbergs Roman ist eine nüchterne Vivisektion einer scheinbar intakten jüdisch-amerikanischen Familie, die längst zerfallen ist – ein erbarmungsloser Blick in Abgründe, langsam erzählt, akribisch, mit Atem und Ausdauer. Wer das nicht scheut, gerät langsam in den Sog einer komplexen, faszinierend beklemmenden Studie über Ehrgeiz, Einsamkeit, mystische Sehnsucht und Besessenheit.
Die Idee entstand, als eine Freundin Myla Goldberg von ihrer Schulzeit, von Buchstabierwettbewerben erzählte, für die Autorin eine Art Mikro-Kosmos der Kindheit – und der rote Faden des Romans, mit dem sie Spannung aufbaut. Der Kampf der Schnellbuchstabierer, das „bee spelling“, bei dem Kinder tatsächlich auf der Bühne ohnmächtig werden, heulen, an Nägeln knabbern, stottern, ist eine grausame Welt des Wettbewerbs zwischen Angst, Triumph und Versagen – eine uramerikanische Tradition.
Für Goldberg ein gutes Beispiel, wie sehr wir für die Erwartungen anderer leben, die der Eltern, Geschwister, Mitschüler und Lehrer. „Eltern sind extrem wichtig, um herauszufinden, wer du wirklich bist“, sagt sie. „Sie geben dir eine Idee, wie du eine Weile leben willst – und wenn das mit dem übereinstimmt, wer du bist, hast du Glück. Dann funktioniert es. Sonst findest du einen andern Weg.“
Im Roman wird der Buchstabier-wettbewerb zum Katalysator, zum Auslöser für das Auseinanderdriften der Familie. Elizas Vater Saul, Kantor in der Synagoge, Bohemian, Hausmann und Kabbala-Gelehrter, ist seit dem College ein verbittert Suchender, dem die letzte Schau der Dinge versagt geblieben ist. In seiner buchstabierbegabten Tochter erkennt er plötzlich mystisches Potential, will sie zur höheren Erkenntnis führen.
„Das Reich der Buchstaben ist das Reich der Glückseligkeit“, hat Abraham Abulafia geschrieben, einer der ersten großen spanischen Kabbalisten des 13. Jahrhunderts. Saul hat ihn übersetzt und liest seiner Tochter aus seinen Büchern vor. Besessen von Buchstaben geht Eliza aber über seine Lektionen hinaus, liest andere Mystiker und entpuppt sich tatsächlich als spirituelle Begabung. Buchstaben sprechen plötzlich zu ihr, unbewusst, formen sich zu Bildern, explodieren und ordnen sich neu, klar, vor ihrem Auge.
Die Schönheit des Alphabets, besonders des hebräischen, der jahrhundertealten Tradition, erlebt sie als Ekstase, als Teil eines größeren Ganzen, das, wonach ihr Vater, ihre Mutter und ihr Bruder Aaron verzweifelt suchen.
Aaron, das frühere Vorzeigekind, enttäuscht vom Vater, der sich ganz seiner Schwester und deren neu entdeckten Talent zuwendet, stürzt sich auf östliche Religionen, meditiert, singt, übernachtet im Hare-Krishna-Tempel – wählt den rebellischen Weg zur eigenen Identität. Die Mutter, eine distanzierte, erfolgreiche Anwältin leidet unter Zwangsneurosen. Wahnsinn und Normalität schieben sich ineinander. „Tikkun olam“, die Reparatur der Welt, deutet sie auf atemberaubend kreative Weise – indem sie Verbrechen begeht.
„Jede Figur sucht nach etwas, das die Banalität seines Lebens übersteigt. Jeder tut das“, sagt Myla Goldberg. „Aber die Wege, die die Familienmitglieder einschlagen sind sehr unterschiedlich. Für mich besteht die Tragik des Romans darin, dass sie nicht erkennen, wie sehr sie das Gleiche suchen.“
Goldberg erzählt mehr statt zu zeigen. Sie interessiert, wovon eine Person getrieben wird. Ihre Prosa lebt von inneren Monologen, von der Tiefe und Vielschichtigkeit ihrer Charaktere.
Jede Figur trägt einen Riss in sich, eine Wunde, die sie auf seltsame Weise kultiviert, schützt und heilt. Alle vier Familienmitglieder sind gefangen in einem Netz von Ritualen. Sie versenken sich ganz in das, was sie glauben leben zu müssen.
„Vielleicht ist der Tod kein tiefer Schlaf, aus dem man nicht mehr erwacht“, geht Eliza durch den Kopf, „sondern das Leben, auf einen unentrinnbaren Moment konzentriert.“ Konzentration auf die ureigene Sache verhindert aber gerade, wonach sich alle sehnen, weil sie unfähig sind, es zu geben: Nähe.
Das Ende verblüfft. Denn offen bleibt beim Buchstabierwettbewerb, ob sich Eliza, als sie ans Mikrofon tritt und den ängstlich-sehnsüchtigen Blick ihres Vaters auffängt, nun für die Realität entscheidet – dem ins Auge sieht, was ist, oder in ein Zweitleben flüchtet wie alle andern. Vielleicht hat sie zum Schluss als Einzige die befreiende Lektion gelernt, dass es manchmal viel mehr zu verlieren gibt als zu gewinnen.
Myla Goldberg: Die Buchstabenprinzessin übersetzt von Christiane Buchner und Martina Tichy, Kindler, 2004, 380 Seiten, 19,90