Ein Krimi ohne Detektiv, die Polizei kommt nur in wenigen Nebensätzen vor – und trotzdem ein spannendes Stück Kriminalliteratur, durchzogen von jener Traurigkeit, die so vielen guten Kriminalromanen innewohnt.
Natürlich gibt es auch hier eine Art Ermittler: John Fleming, dessen Sohn bei dem „es“ des dämlichen deutschen Titels ums Leben kam. Während einer Schiffsbesichtigung stürzt der 12jährige Schüler eines englischen Internats zu Tode; der Internatsleiter und alle, die der Schule näher verbunden sind, hoffen und beschwören, dass es sich dabei nur um einen Unfall handeln kann. Doch der trauernde Vater setzt alles daran, einen Schuldigen am Tod seines Sohnes zu finden.
Es wird eine Aufklärung geben, doch nicht dank Fleming, der stößt bei seinen Untersuchungen auf Ausflüchte, Blockaden und hilflose Versuche eine heile Welt aufrecht zu halten, die es SO nie gegeben hat. Die Lösung erfolgt nahezu zwangsläufig. Denn bestimmte Dinge drängen ans Tageslicht, egal mit wie vielen Decken gut gemeinter Heuchelei man sie verdecken will. Dabei gelingen Gill eindrucksvolle Charakterstudien. In ihrer literarischen Welt gibt es kein Schwarz oder Weiß, stattdessen tummeln sich lauter Grautöne darin. So ist John Fleming kein strahlender Held, niemand, der aus Prinzip Gerechtigkeit sucht, sondern ein Getriebener, dessen Antrieb sein Schmerz ist. Was die Wahrnehmung nicht eben objektiviert. So sind auch die meisten seiner „Gegenspieler“ keine bösartigen Verbrecher, sondern Menschen, die sich durchaus Gedanken machen, doch keine Chance sehen diese Gedanken auch in Taten umzusetzen. Denn irgendwo gibt es immer etwas, das man schützen muss: einen Ruf, eine Familie, wirtschaftliche Verbindungen, den Status Quo. Und es gibt nur Standpunkte, keine Kommunikation, Schlussfolgerungen oder Konsequenzen. Angespanntes Verharren im Leerlauf. Als dieses brüchige Gebilde zersplittert, gibt es nur Opfer. Selbst der psychopathische Täter ist eines. Es gibt keine Erlösung; zwar schafft es Liebe das Leiden zu mildern, aber eine Rettung ist sie nicht. Bestenfalls ein schmerzvoller Neubeginn sitzt drin. Für jeden der Beteiligten.
Gerade weil in „Death drop“ nicht verdammt wird, weder das englische Internatssystem, noch der mörderische Soziopath, ist das Ergebnis um so verstörender. Denn das Grauen lauert in der Normalität, jede der beteiligten Personen sieht es auf ihre Weise, doch umgehen, geschweige denn bekämpfen kann es kaum jemand. Auch wenn David Fleming nicht zu Tode gekommen wäre, das Übel wäre trotzdem da. Eltern, die ihre Kinder verraten, Lehrer, die in falsch interpretierter Fürsorglichkeit ihre Schützlinge sexuell und mental missbrauchen (gerade in der Behandlung dieses Themas war Gill ihrer literarischen Zeit weit voraus), ältere Schüler, die ihre jüngeren Mitschüler tyrannisieren und schikanieren. Es ist die Verlogenheit, jene Sehnsucht bestehende Verhältnisse zu glorifizieren, wenn man sie überstanden (überlebt?) hat, die der wahre Feind ist, der Horror der Verdrängung.
Stilitisch ist B.M. Gill dabei weit entfernt von der hohlen Geschwätzigkeit neuerer angelsächsischer Kriminalautorinnen, die bestrebt sind, das Verbrechen wieder zurück in die Cottages zu holen, wo es nun garantiert nicht hingehört. 150 Seiten reichen Frau Gill für ein eindrucksvolles und spannendes Psychogramm.
Erhältlich ist das Buch z.Z. (??) leider nur antiquarisch, dafür aber zu Preisen teilweise ab 1 Cent plus Porto. Es lohnt sich.
B.M. Gill: War es nicht eigentlich doch nur ein Unfall?
Rowohlt 1982
(Original "Death Drop", 1979)
(unter dem Titel "Blind in den Tod" 1992 bei Rowohlt wiederveröffentlicht, dort unter diesem Titel auch gemeinsam mit "Herzchen" in einem Doppelband)