Das gesamte Buch hindurch versucht Lucas Davenport eine Liste mit seinen 100 liebsten Songs der „Rock-Ära“ zu erstellen. Kollegen und Personal am Rande versuchen ihm zu helfen; einem in der Psychiatrie einsitzenden Patienten fällt sogar ein eklatanter Mangel dieser Liste auf. Im Anhang wird sie endlich veröffentlicht, und ist Kennzeichen für den kompletten Roman, eigentlich sogar für die ganze Reihe um den zielstrebigen Cop Lucas Davenport: Lucas musikalischer Geschmack ist solide Hausmannskost, mit einigen Ausrutschern. Positiven wie negativen.
Ein Davenport-Roman ist wie ein Besuch bei guten Freunden; man freut sich, sie zu sehen, wird ansprechend und spannend unterhalten; manchmal sind sie schlecht drauf und man geht früh, dafür gibt’s aber auch die richtig guten Tage, an denen man gerne länger verweilt. „Kaltes Fieber“ ist ein wohl geratener Besuch, dessen Erinnerungswert aber eher bescheiden bleibt.
Worum geht’s? Ein Doppelmord wird in Verbindung gebracht zu einem ungelösten Mordfall, und ehe man sich versieht, schreit alle Welt: „Serienkiller“. Ein Verdächtiger ist schnell ermittelt, doch unauffindbar, und sein Profil – das eines tumben, gewalttätigen Vergewaltigers – passt nicht zum Verhalten des planenden und strukturierten Serienmörders. Aber da gibt es in der psychiatrischen Klinik unweit entfernt diese drei durchgeknallten Superverbrecher – sollten SIE ein Werkzeug erschaffen haben, welches ihre perversen Gelüste stellvertreterhaft befriedigt? Überraschung, Überraschung – soo einfach ist es nun doch nicht…
Sandford führt den Leser an sicherer Hand geschmeidig durch die sich immer weiter aufdröselnden und verzweigenden Geschehnisse. Ab und an gelingen ihm herrlich absurde Episoden; Gewalt und Brutalität werden nur explizit dargestellt, wenn es der Geschichte dient (was mittlerweile ja schon viel wert ist). Am Ende steht die oben erwähnte Liste, und der Rückzug eines verdienten Kollegen aus dem Polizeidienst, konsequent durchgeführt mit der naheliegendsten Begründung: irgendwann ist es einfach genug mit der Gewalt, den Leichen, den Besuchen in der Pathologie, die mehr Zeit in Anspruch nehmen als Unternehmungen mit Familie, Freunden oder schlichte Ausflüge in den Park (ohne dabei über eine misshandelte, zerfetzte Leiche zu stolpern).
So weit so gut. Denn so angenehm das Buch zu lesen ist – vollauf glücklich wird man nicht damit. Und das liegt an der Konstruktion: schon wieder ein Serienkiller, schon wieder überragende Geister, überragend hauptsächlich in ihrer Derangiertheit und ihrem Vermögen grausamste Verbrechen zu planen, durchzuführen und zu genießen. Das braucht mehrere Drehungen, um spannend zu sein, und Killer, die noch extraordinärer agieren als der Durchschnittsmörder von nebenan. Das man Sandford all diese Kniffe abnimmt, das innerhalb seines hermetischen Universums Personal, Geschichte und Entwicklung stimmig sind, zeugt von seinem Können als Autor. Dass dieses Universum zerfällt wie eine Pusteblume im Orkan, sobald es die eigens erschaffene Welt verlässt, ist sein Manko. Es gibt keine Bedrohung mehr, die übers Papier hinausweist, keine Beziehungen, deren Analyse in der wirklichen Welt bestand hätte. Hier fährt eine Kunstfigur in seinem schnittigen Porsche durch eine künstliche Welt, in der eine Hauptfrage zu sein scheint: „wie kann ich den nächsten noch extremeren Psychopathen kreieren?“ Sandford legt ihn in einem Nebenstrang bereits an, wir dürfen gespannt sein, ob sich daraus die nächste Episode entwickelt…
Bis dahin behalten wir „Kaltes Fieber“ in angenehmer Erinnerung, werden aber das ein und andere Buch gelesen haben, das wesentlich nachhaltigere Eindrücke hinterlassen wird.
Jochen König, in Laune für Nachträge…
– Zu schade, dass Lucas Davenports ehemaliger(?) Zweitberuf, Entwickler von Spielesoftware, überhaupt keine Rolle mehr spielt. Diese Erdung, auch über die – meist kurze – Schilderung seiner Kompagnons in diesem Bereich, hob Sandfords Romane ebenfalls noch einen Tick über das Gros der Starken-Ermittler-mit-Macken-Thriller heraus.
– Die Musikliste. Das Einprägsamste. Wenn die Geschichte vergessen ist, Davenports Liste sorgt für anhaltende Diskussionen. Nicht nur beim fiktiven Personal.
– 3 mal Guns N’ Roses und “November Rain“ ist nicht dabei. Stattdessen das mediokre Cover von Dylans „Knockin’ on Heaven’s Door“! Wo das Original bereits in der Liste vorhanden ist. Redundant.
– Natürlich weiß jeder intelligente Mensch, dass eine angenehme Autofahrt NICHT mit ZZ Top beginnt. Sondern mit: „Driving away from home“ von It’s Immaterial; „Instant Street“ vom Deus Album “The Ideal Crash“ und „Autobahn” von Kraftwerk.
– Was Musik und Krimis angeht, sollte Sandford bei Ian Rankin und vor allem John Connolly vorbeischauen. Das ist Perlentauchen.
– …this ist the end. Fehlt.
John Sandford: Kaltes Fieber.
Page & Turner 2006
(Original: “Broken Prey”. G.P. Putnam’s Sons, 2005, deutsch von Manes H. Grünwald).
475 Seiten. 19,95 €