Hat Meret auf ihrer ersten CD „Noctambule“ noch überwiegend Interpretationen von Hollaender-Liedern, Brecht-Chansons und traditionellem Liedgut geliefert, handelt es sich bei „Nachtmahr“ um ihre erste selbstkomponierte CD. Bei den Texten nahm die 29jährige Anleihen bei Erich Kästner („Traum vom Gesichtertausch“), Gottfried Keller („Ballade vom kleinen Meretlein“) und Lewis Caroll („Geistgestört“), alles andere stammt aus ihrer Feder. Und wie der Titel schon vorwegnimmt, kreist das zentrale Thema des Albums um Zustände, bei denen Wirklichkeit und Unwirklichkeit verschmelzen, Alpträume, Gespenstisches, fantastische Assoziationen.
Zwar läßt Meret keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie ein bewegtes Innenleben führt, aber bei der musikalischen Ausgestaltung ihrer Traumgeschichten hapert es zuweilen. Die singende Säge und leiernden Kirmesorgelklänge – Merets unverzichtbare Utensilien bei der Umsetzung von schwummeriger Traumatmo – nerven nach einigem Hören genauso wie diese Kleinmädchenstimme, mit der sie ihre Texte vorzugsweise wiedergibt. Der Song „Prise de Tête“ überrascht dann auch positiv: Meret skizziert mit fester dunkler Stimme in französischer Sprache eine nächtliche Momentaufnahme. Aha! Sie kann es also noch.
Interessant auch die gesangliche Darbietung in „Bobinke“. Keine Ahnung, ob es richtiges Jiddisch ist, was Meret da singt, aber in jedem Fall steigert sie sich zu rotzig-frechen Höhen; das Ganze hat echten Drive. In der folgenden „Ballade vom kleinen Meretlein“ ist übrigens Otto Sander als Sprecher der Auszüge aus dem Roman „Der grüne Heinrich“ von Gottfried Keller zu hören.
Die übrigen Stücke der CD konnten mich nicht mehr fesseln. Leider. Es entstand eher der Eindruck, daß sich alles wiederholt, Merets oft farblose Stimme sich mit dem nicht sonderlich variablen musikalischen Hintergrund vermischt und alles ineinanderwabert. Vielleicht sollte Meret doch besser bei der Interpretation bleiben. Die Wandlungsfähigkeit, die sie auf ihrer ersten CD bewies, wird hier jedenfalls nicht erreicht. Dafür scheint Meret in punkto Fotoaufnahmen nichts zu wünschen übrig zu lassen: für das Plattencover mimt sie eine elisabethanische Lady. Ihre Autogrammkarten zeigen sie als japanische Geisha oder gestylt à la Audrey Hepburn. Und die Aufnahmen, die sie für den „Playboy“ (mit dem weißen Knuffelhäschen von „Noctambule“!) gemacht hatte, waren ja auch ganz … äh … interessant.
Neben bereits bekannten Musikern des Debutalbums stand Meret hier wieder vor allem Alexander Hacke zur Seite. Er zeichnet auch als Produzent verantwortlich und singt mit Meret zusammen das (Liebes)-Lied „Im Bauch“. Im Februar soll ja das Wunschkind der beiden zu Welt kommen. Ach ja: Und wo bei „Noctambule“ noch das Fehlen eines ausführlicheren Booklets gerügt wurde, kann man sich bei „Nachtmahr“ nicht über unterschlagenen Textabdruck nebst Linernotes beklagen: die äußere Aufmachung der CD ist recht kunstvoll.
Meret Becker: Nachtmahr
(Philips Classics, 538082-2)