Für alle, denen der Name nichts sagt: Ian Curtis war sowas wie der Curt Cobain der 80er. Bis zu seinem Selbstmord (er erhängte sich im Mai 1980 am Vorabend einer geplanten Amerika-Tournee) war er Leadsänger eines Quartetts aus Manchester namens ´Joy Division´, aus dessen Resten sich nach seinem Tod ´New Order´ formten, die musikalisch bald rein gar nichts mehr mit dem früheren Düster-Depri-Industrial-Elektronik-Sound zu tun hatten. ´Joy Division´ lag zeitlich an der Schwelle zwischen Punk und New Wave, war Inspirationsquelle für ungezählte jüngere Bands und gilt heute als Kult.
Weniger kultig und romantisch wirkt die ganze Sache allerdings aus der Sicht von Curtis´ Witwe Deborah. Jawohl, dieser bizarre und besessene „Todesengel“ war ganz bürgerlich mit seiner Jugendliebe verheiratet und gar Vater einer kleinen Tochter!
„Aus der Ferne“ zeichnet ein Bild seines kurzen, 23jährigen Lebens von der Kindheit bis zum Tod, und die häufigste Reaktion beim Lesen der Schilderungen ist vermutlich der Ausruf „Das arme Mädchen!“ Es war sicher kein Zuckerschlecken, das Leben an der Seite dieses egozentrischen, introvertierten Musik-Freaks mit seinen unberechenbaren Stimmungsschwankungen – ob er tatsächlich so besitzergreifend und despotisch war, wie hier beschrieben, bleibt dahingestellt (sicher ist das Buch auch Verarbeitung psychischer Altlasten und Schuldgefühle), scheint mir aber nicht unglaubwürdig. Deborah Curtis erlebte die andere, private Seite des Sängers, kannte seine frühen Todesvisionen und Drogenexperimente sowie sein manisches Interesse für menschliche Abnormitäten und Schicksalsschläge, litt unter der gemeinsamen Geldnot und mußte die bedrohlichen Anfälle des späteren Epileptikers mitansehen, der zunehmend in Depressionen versank und vermutlich infolge des hohen Medikamentenkonsums eine starke Persönlichkeitsveränderung erfuhr. Deborah Curtis kannte aber auch die jugendliche Begeisterung für Curtis´ Helden Jim Morrison, Lou Reed, David Bowie etc., wurde zu Konzerten der Sex Pistols und Punk-Festivals auf dem Festland mitgeschleift, erlebte die Genese einer der innovativsten Independent-Bands, das musikalische Erwachen der Arbeiterstadt Manchester und den Triumph des „Underdogs“ über das arrogante London, die Nachbarschaft zu Bands wie den Buzzcocks, The Fall und Teardrop Explodes und last not least eine der spannendsten Entwicklungen ever: den Wiedereinzug von Rebellion und Jugend in die Rockmusik nach der Stagnation im Zeichen des Artrock. Da war ihre Ehe allerdings schon im Eimer… Doch es war nicht Curtis´ belgische Geliebte, die ihn am Morgen des 17. Mai 1980 in der Küche mit der Wäscheleine um den Hals fand, sondern seine Frau!
Bei aller persönlicher Tragik und auch im Bewußtsein des hohen musikhistorischen Werts – das bedrückendste und beeindruckendste Moment des Buches ist sein unprätentiöser sozialgeschichtlicher Gehalt. Ich weiß, worum ich Deborah Curtis am wenigsten beneide: um ihre Jugend im England der ärmlich-tristen 70er Jahre! Noch ein Wort zum Buch an sich: trotz des traurigen Sujets ist der Text extrem kurzweilig zu lesen! Zur biographischen Betrachtung kommen Photos, ausführliche Diskographie, Konzertlisten und ein komplettes, z. T. exklusives Set von Curtis´ Songtexten hinzu. Optisch gut aufgemacht, stabil und mit angenehmem Schriftbild ist das Werk dennoch, was man in der Musik eine „schlechte Pressung“ nennt: mangelhaft in Orthographie und Interpunktion und bisweilen etwas holprig übersetzt. Nichtsdestotrotz: ich hab´s verschlungen!
Deborah Curtis:
"Aus der Ferne… Ian Curtis und Joy Division"
Die Gestalten Verlag Berlin 1996
(engl. Originalausgabe "Touching from a distance" 1995)