Stellt Euch mal vor, ihr geht in eine gutsortierte Buchhandlung und verlangt eine Biografie von Neil Young. Der Buchhändler schaut verständnislos, wiegt bekümmert den Kopf und guckt dann in seinem Verzeichnis lieferbarer Bücher nach. „Tja“ sagt er schließlich, „Pech gehabt. Gibt es nicht.“ Wie? Unvorstellbar? Habt Ihr doch, wenn Ihr den Kopf leicht nach rechts dreht, gute drei Meter Literatur über Neil Young im Visier, und im Regal daneben harren sieben Meter Bob Dylan der Lektüre? Schon recht. Aber wieviele Bücher habt Ihr eigentlich über Joni Mitchell? Ich will es Euch sagen: Höchstens eins. Ein schmales Bändchen von Leonore Fleischer, 1976 erschienen, mit schönen Bildern, aber einem weniger befriedigenden Text.
Ganze zwanzig Jahre also schwiegen die Chronisten, bis jetzt der Brite Brian Hinton Leben und Werk der genialen Kanadierin erneut, und zum erstenmale gründlich, unter die Feder genommen hat. Ein wahrhaftiger Skandal, und wäre ich der Zyniker, der ich natürlich bin, würde ich postulieren, dieses merkwürdige Ignorieren einer der wichtigsten Persönlichkeiten der populären Musik liege zum einen daran, daß Joni a) nicht tot ist wie z.B. Janis Joplin, über die ja teilweise merkwürdige „Biografien“ kursieren, und b) kein Mann wie Dylan und Young, in deren Gewichtsklasse Joni durchaus antreten kann. Man wird auch nicht einwenden können, Mitchells Karriere sei recht langweilig gewesen und lohne die Beschäftigung nicht. Im Gegenteil. Sowohl privat als auch künstlerisch hat sie sämtliche Höhen und Tiefen mitgemacht, alles erlebt, was einem kurzen Leben hienieden widerfahren kann und ein Werk mit inzwischen 17 Alben vorgelegt, dessen Bedeutung noch immer nicht auch nur annähernd ausgelotet ist. Schweigen wir ganz davon, daß die aktuellen Triumphe weiblicher Singer/Songwriter wie Morissette/Crow und Konsorten ohne Joni Mitchell eigentlich undenkbar wären. Sie ist die Pionierin, das Vorbild, die Meßlatte.
So. Und was macht Hinton nun aus diesem ebenso dankbaren wie schwer zu handhabenden Stoff? Vorweg: Hinton liefert gute, seriöse Arbeit. Er gehört zu einer in Deutschland sehr seltenen Spezies von Rockbuchautoren, die professionell arbeiten und, obwohl sie durchaus auch Fans sind, nicht in die Kategorie der hierzulande hingebungsvoll werkelnden Fanatiker fallen, die im Hauptberuf ihr Dasein vielleicht als Lehrer oder Bibliothekar fristen und nach Feierabend, bevor sie ihre müden Häupter in „Elvis“-Kopfkissen betten, an einer Biografie des Kings herumfeilen (meistens nicht unter 20 Jahren, 200 ablehnenden Verlagsbescheiden, 2.000 Seiten und 20.000 Grammatikfehlern). Was nun Vor- und Nachteile mit sich bringt. Vorteil ist eben, daß Hinton eine schnörkellose und geübte Art hat, sein Thema zu formen. Nachteil: Gerade weil er professionell ist und während des Schreibens des Mitchell-Buches das nächste Projekt schon im Hinterkopf hatte (nämlich das für Mai 97 angekündigte „Celtic Crossroads – The Art Of Van Morrison“), sind Zeit- und Arbeitsaufwand beschränkt. Hinton arbeitet daher fast ausschließlich mit „Sekundärmaterial“, also den diversen Reportagen, Interviews und Plattenkritiken, die sich in Jonis nun fast dreißigjähriger Karriere angehäuft haben. Daß Frau M. selbst nicht zur Mitarbeit bereit war, ist zwar schade, aber verständlich. Weniger verständlich, daß Hinton den Biografien-hinter-der-Biografie nicht nachspürt. Man möchte als Leser z.B. gerne wissen, was aus Mitchells erstem Mann, dem Liedermacher Chuck Mitchell wurde. Oder Näheres erfahren über die Stimmung im Los Angeles der Endsechzigerjahre, als Joni die Freundin von Graham Nash war und praktisch die gesamte musikalische Elite der Stadt eng zusammenarbeitete. Auch das Phänomen Woodstock (Joni schrieb die gleichnamige Hymne des Festivals, ohne selbst dort aufgetreten zu sein), wird eher en passant abgehakt. Das führt dazu, daß sich bei der Lektüre des Buches allmählich so etwas wie ein Ermüdungseffekt einstellt. Denn Hintons Vorgehensweise ist stets die gleiche: Joni macht eine neue Platte – die Stücke werden einzeln vorgestellt – was sagt die Presse dazu? – was macht Joni anschließend? – wie läufts privat? Natürlich: Hinton schreibt vor einem Bildungshorizont, der nicht bei Chuck Berry anfängt und den Stones aufhört. Das verleiht seiner Prosa durchaus etwas Unterhaltsames, etwa wenn er lakonisch feststellt, Joni sei beim Schreiben ihrer Songs immer wieder durch überraschende Besuche von Freunden in ihrer Konzentration gestört worden, und dann anfügt: „The same thing happened to Coleridge when he was halfway through ‚Kubla Khan‘.“. Oder für alle Nichtanglisten: Das gleiche Ding, das Coleridge passierte, als er halb durch ‚Kubla Khan‘ war, passierte Goethe, als er noch nicht einmal halb durch ‚Faust II‘ war. Es gibt einige Indizien, die für Hintons sehr ökonomische, will sagen: manchmal zu routiniert/mechanische Art des Schreibens sprechen. Er wiederholt sich manchmal fast wortwörtlich (d.h. greift das Versatzstückchen zweimal aus dem Zettelkasten) und erlaubt sich den running gag, good old Linda Ronstadt notorisch Linda Rondstadt zu nennen.
Aber ich will ja nicht über Gebühr herumkritteln. Das Positivste bleibt an Hintons Buch eben doch, daß es überhaupt geschrieben und publiziert wurde. Seriöse und solide Arbeit, wie gesagt, und hoffentlich ein Grundstock für weiterführende Anstrengungen.
Und da wir gerade bei Hinton und Mitchell sind: Brian hat auch (wieder bei Sanctuary) ein lesenswertes Buch über die drei „Isle Of Wight“-Festivals 1968-1970 abgeliefert. Am letzten hat auch Joni teilgenommen. Etwas für Leute, die gerne wissen möchten, worin die Magie jener Großveranstaltungen lag und warum sich das Ganze in seiner ursprünglichen Form letztlich überlebt hat. Einige köstliche Anekdoten würzen das Bändchen, andere lassen einen eher erschaudern (etwa die gesammelten Klagen der Anwohner über diese „ungewaschenen Säue von Hippies“).
Und da wir immer noch bei Joni Mitchell sind, schnell ein Hinweis auf „She Bop. The Definitive History Of Women in Rock, Pop And Soul.“ der Engländerin Lucy O’Brien. 1995 bei ‚Penguin‘ erschienen, bietet es tatsächlich ein guten Überblick über die Leistungen von Frauen in der populären Musik, von Bessie Smith bis Björk. Auch gesellschaftliche und kommerzielle Aspekte werden zumindestens angerissen.
Klar, so definitive wie ausgelobt, ist auch „She Bop“ nicht. Wo z.B. ist „unsere“ Nina Hagen? Welcher Teufel ritt Frau O’Brien, die göttliche Emmylou Harris nur ein einziges Mal kurz zu erwähnen? Und die möglicherweise noch göttlichere Sandy Denny überhaupt nicht! (von June Tabor spreche ich erst gar nicht; es ist schon traurig!) Warum wird Carole King recht kurz abgefertigt, Patti Smith aber penetrant umfangreich porträtiert? Nichts gegen Frau Smith, aber Carole Kings Stellung in der Musikgeschichte dürfte die weitaus gewichtigere sein. Sie hat sich aber nicht so spektakulär in Szene gesetzt.
Dennoch: Lucy O’Brien versucht, den porträtierten Frauen vor allem als Künstlerinnen gerecht zu werden, ohne dabei zu verschweigen, daß sie mit Problemen zu kämpfen haben, die Männern meistens unbekannt sind. Als reader gleichermaßen wie als Nachschlagewerk empfehlenswert, trotz der im Endeffekt kleinen Schwächen (über die man sich aber herrlich aufregen kann).
Da wir jetzt leider nicht mehr bei Joni Mitchell sind, noch ein gänzlich anders gearteter Tip: Euch an dieser Stelle das Buch „Happy Boys Happy“, die Geschichte der Small Faces und ihrer diversen Ableger, zu empfehlen, würde bedeuten, BSE nach Großbritannien zu tragen. Jeder, der sich auch nur im Entferntesten für die Geschichte der Popmusik interessiert, hat es längst als vielumhegten Mittelpunkt in seiner Bibliothek stehen (für Neueinsteiger: das Ding ist beim Sonnentanz Verlag Augsburg erschienen und kostet lächerliche 39,80 DM). Hochgelobt vom „Literarischen Quartett“ (Reich-Ranicki: „Geiles Teil!“, Karasek: „Aber echt!“, Löffler: „Hä?“) und sogar in der bürgerlichen Wochenpresse hymnisch rezensiert („Die Zeit“: „Ende des 18. Jahrhunderts trafen sich Goethe und Schiller, um die „Xenien“ zu schreiben. Ende des 20. setzten sich Roland Schmitt und Uli Twelker zusammen und schrieben „Happy Boys Happy“.), scheiterte die verdiente Zuerkennung des Literaturnobelpreises wohl nur an dem mißlichen Umstand, daß „Happy Boys Happy“ lediglich in einer deutschen Ausgabe verfügbar war, das gesamte befreundete Ausland ergo in einem Zustand „unverschuldeter Dummheit“ (Kant) dahinvegetieren mußte. Das aber ändert sich jetzt!
Der nie genug zu lobende englische Verlag Sanctuary (siehe oben) bringt „Happy Boys Happy“ auch für alle Angelsachsen, Amerikaner und sonstigen der englischen Sprache Mächtigen auf den Markt. Ganze 9,99 Pfund (also nicht einmal 5 Kilo!) muß abdrücken, wer endlich erfahren möchte, „wie es wirklich war“ (Ludwig Harig). Deshalb hier ausnahmsweise eine dringende Empfehlung für alle, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, aus unerfindlichen Gründen aber dennoch mit Gewinn im HINTERNET stöbern:
Dear English-speaking reader! What? You call yourself a specialist in pop history without having read „Happy Boys Happy“, The story of The Small Faces by Roland Schmitt and Uli Twelker? Forget it! Little does you know! Your life has been an empty room filled with illusions! But listen: There’s a chance now for you to become a real „connaisseur“. Sanctuary will publish an English translation of this trendsetting book quite soon. 9,99 pounds for that masterwork? It’s ridiculous, but it’s true. Twelker and Schmitt have been critically acclaimed „Germany’s finest contemporary writers ever“. Twelker is what we call a „high animal“ in the education system, bringing light in the lightless lives of young people by reading extracts from the book. Schmitt, a charming and very good looking man, is well known both as „grandmaster of books“ and „Germany’s answer to Ronnie Lane“, because he also plays the bass guitar. So it’s no surprise, that „Happy Boys Happy“ is a marvellous work, only to compare with Coleridge when he was totally through ‚Kubla Khan‘. So look out for „Happy Boys Happy“ and don’t forget: If you don’t buy the book, Twelker and Schmitt will stop eating your crazy cows!
Mit diesem dramatischen Appell an den Intellekt unserer englischsprechenden Leser schließen wir für heute unsere Musikbücherecke.
Zum Mitschreiben noch einmal die bibliografischen Details:
Brian Hinton: "Joni Mitchell - Both Sides Now", London (Sanctuary) 1996, 304 Ss., 15 Fotos (verdammt wenig!), 12,99 £
Brian Hinton: "Message To Love - The Isle Of Wight Festival 1968 - 1969 - 1970", London (Sanctuary) 1995, 190 S., Fototeil, 9,99 £
Lucy O'Brien: "She Bop - The Definitive History Of Women In Rock, Pop And Soul", London (Penguin) 1995, 464 Seiten, viele Fotos im Text, 12,50 £
Uli Twelker & Roland Schmitt: "Happy Boys Happy. A Rock History of The Small Faces & Humble Pie", London (Sanctuary) 1997, unglaublich viele Seiten und unglaublich schöne Fotos für fast unfaßbare 9,99£