Interview: Chris Jagger

Im Frühsommer 1998 erschien beim Hamburger Label Hypertension „From Lhasa To Lewisham„, das jüngste Album von Chris Jagger. Er hat es gemeinsam mit dem Multiinstrumentalisten Charlie Hart (Ex-Ronnie Lane’s SLIM CHANCE, Ex-BALHAM ALLIGATORS) und dem Blues- und Boogie-Pianisten Ben Waters aufgenommen. Das Trio firmiert unter dem (programmatischen) Namen ATCHA ACOUSTIC. Ende November kamen die drei wieder auf Deutschlandtournee, nachdem sie hierzulande im Mai und Juni bereits einige begeistert aufgenommene Gigs absolviert hatten.

Unser Mitarbeiter und bekennender Small Faces-Fan Roland Schmitt nutzte die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Chris Jagger, das eigentlich in der Zeitschrift Good Times erscheinen sollte, aber letztlich gestrichen wurde. Ergo bietet hinternet wieder einmal die exklusive Plattform!

Hinternet: Soweit ich weiß, hast Du Deine musikalische Karriere mit einer Beatband namens THE PINEAPPLE TRUCK begonnen. Wie ist das damals abgelaufen und welche Musikstile und Musiker haben Dich seinerzeit beeinflußt?

Jagger: THE PINEAPPLE TRUCK war ’ne Band aus Cambridge, bei der ein Freund von mir, Rick Hopper, sang. Er hat mich dann auch breitgeschlagen, mitzumachen. Es war ziemlich öde, glaub‘ ich, aber letztlich eben auch eine Erfahrung. Rick arbeitete später für Transatlantic Records und PINK FLOYD, und er entdeckte Kate Bush für die EMI. Was machten wir für Musik? Soul und Pop, würd‘ ich sagen. Wir spielten Sachen wie „Happy Jack“ von THE WHO und „Hold On I’m Coming“. Rick brachte mir Tamla Motown nahe. (Mein Bruder) Mick hatte keine von diesen Platten und scherte sich auch nicht drum. Ich mochte THE WHO sehr; sie war meine Liebingsband, und ich hab‘ sie des öfteren gesehen. Zuerst traf ich Pete Townshend, als wir zu seiner Bude gingen, und seine Freundin – später seine Frau – nähte Kleider für uns, als wir Klamotten zu verkaufen versuchten. Na ja, ich hörte einerseits viel Blues, Jimmy Reed, Little Walter and Muddy (Waters) usw., andererseits auch das, was so in der Szene angesagt war. Ich sah Jimi Hendrix in Cambridge zum ersten Mal, und wir waren alle begeistert. Da waren gerade mal ’ne Handvoll Leute in diesem ballroom. Außer diesem war der beste Gig, den ich sah, die STAX Show in Hammersmith mit Otis (Redding), Sam & Dave, Booker T. usw.

Hinternet: Wer Dich kennt, weiß, daß Du sehr vielseitig, mit etlichen Talenten ausgestattet bist. Du agierst ja in vielen Bereichen, als Schauspieler und Journalist, als Musiker und Konzertveranstalter. Wie kriegst Du das alles unter einen Hut? Und übrigens, hast Du eigentlich eine „normale“ Berufsausbildung absolviert?

Jagger: Ich hab‘ wirklich etliche Sachen gemacht, um Geld zu verdienen, aber ich habe keine spezielle Ausbildung. Es ist nun mal so: Mick als Bruder zu haben machte es schwer, Arbeit zu kriegen, und dann wollte ich nicht einfach alles machen. Also hab‘ ich auf mich selbst gebaut, nachdem mich niemand beschäftigen wollte.

Hinternet: Zwischen 1973 und 1974 hast Du zwei feine und hochgelobte Langspielplatten veröffentlicht, die – zumindest kommerziell gesehen – floppten. Was hast Du nach diesen Enttäuschungen gemacht?

Jagger: Das zweite Album („The Adventures Of Valentine Vox…“) kostete mich echt Nerven, denn die rhythm section, die ich angeheuert hatte, war ziemlich schlapp und wollte nicht bis zum Nachmittag durcharbeiten! Das hat das zur Verfügung stehende Budget ziemlich geschröpft. Dann engagierte ich ’ne andere, mit Andy Bown, der jetzt bei STATUS QUO ist. Er spielte Baß und Pick Withers Schlagzeug. Das funktionierte gut, aber wir hatten nicht genügend Zeit. Dann war der Produzent auch verdammt schlampig, worunter die Platte natürlich litt. Das war nicht kommerziell genug, obwohl es gute Ideen gab. Auf dieser zweiten LP war ein Song namens „Yesterdays Sun“, der sich mit der Ölkrise beschäftigte, und ein anderer beleuchtete das Milieu drumrum, wo du verarscht wirst, aber da kümmerte sich 1974 niemand drum und sie tun’s noch immer nicht.

Hinternet: Du bist um die Welt gereist, vor allem in etliche Regionen Asiens. Wie kamst Du mit diesen fremden Kulturen überhaupt in Berühung? Auf Deinen beiden letzten Alben hast Du jeweils einen Song, der sich mit Tibet und seiner Unterdrückung durch Rotchina beschäftigt. Wie kam es bei Dir zu dieser tiefen Sympathie zum tibetischen Volk?

Jagger: 1968 zog ich durch die Lande nach Indien, weil ich von London die Schauze voll hatte und einfach reisen wollte. Ich hatte schon lange drauf gewartet. 1965 war ich während der Schulferien ganz alleine nach Griechenland getrampt, durch Deutschland erst und landete dann auf Kreta. Ich erinnere mich, daß ich vier Wochen weg war und der Spaß mich 50 Pfund kostete. Später zog ich über die Türkei durch den Iran und Afghanistan hindurch. Wir reisten durch den Norden, dann runter nach Pakistan, Indien und nach Nepal; es war damals einfach zu heiß in der Ebene. Wir konsumierten große Mengen erstklassigen Haschischs. Ich blieb ein Jahr in Indien, vor allem in den Bergen im Norden, wo ich Singen lernte, was mir über die Jahre half, meine Stimme zu erkennen und mit dem Atmen zurecht zukommen. Die Tibet-Sache hat sich erst vor kurzem herauskristallisiert, obwohl ich schon mal 1968 versuchte, dort einreisen zu können. Damals war es unmöglich. Ich hatte tibetische Freunde in Katmandu. Vor einigen Jahren ging ich dorthin zurück und schrieb einen Beitrag für den Guardian. Mein Interesse ist da vielfältig: Erstens ist es ein faszinierendes Land mit den höchsten Bergen der Welt, einfach schön, zweitens sind die Leute was besonderes, bedingt durch diese räumlichen Gegebenheiten und den langen Einfluß des Buddhismus, drittens habe ich den Dalai Lama getroffen, und er hat mich als sehr „erleuchtetes“ Wesen unheimlich beeindruckt, ganz ohne Zweifel, viertens wird das Land von den Chinesen wie ein Gefangenenlager geführt. Die sind entschlossen, jegliches kulturelle, religiöse und traditionelle Leben zu vernichten, das die Tibeter seit Jahrhunderten pflegten, bevor der Peking-Faschismus sein häßliches Gesicht zeigte. Die Juden wollen nicht, daß der Holocaust vergessen wird, Mensch, daß läuft genauso ab in einem jener Länder, das ein Handelspartner der „guten alten“ Europäischen Gemeinschaft ist.

Hinternet: Du hast vor einigen Jahren manchen SMALL FACES-Fan überrascht, als er Deinen Nachruf auf Steve Marriott ausgerechnet in dem deutschen Musiker-Magazin ‚Fachblatt‘ (7/1991) lesen konnte. Was verband Dich mit Steve?

Jagger: Steve war ein begabter Kerl, auch wenn er ’ne Menge Leute ärgerte. Er tingelte durch die Lande mit seiner Band, spielte in den Pubs und niemand nahm richtig Notiz von ihm bis er starb, und dann brachten sie seine Platten auf CD heraus und sagten im Fernsehen, wie großartig er gewesen war.

Hinternet: 1994 hattest Du mit „Atcha“ nach einer 20jährigen Plattenpause ein durchweg positiv aufgenommenes Album herausgebracht. Damals fiel es schon schwer, Dich und Deine Musikmixtur in eine bestimmte Schublade zu stecken, und ich denke, mit „From Lhasa To Lewisham“, der jüngsten CD, ist es nicht anders (link auf Rezension!!!). Liege ich richtig, wenn Du dabei ganz bewußt nicht auf die Charts schielst? Ist es denn nicht problematisch, Platten „nur“ nach eigenem Gusto zu machen?

Jagger: Ich würde schon gerne eine Platte machen, die sich auch verkauft, aber dafür brauchst du ’ne Menge Kohle und ’ne gute Plattenfirma. Die erste CD („Atcha“) war eine Herausforderung, den ich war bis dato noch nicht auf ’ne britische Band gestoßen, die diese Art von Musik spielte, die ihre eigenen Songs schrieb, die auch gewissen Ansprüchen genügte. Im allgemeinen coverte man bekanntes Zeug aus Louisiana und kopierte das einfach nur, aber ich wollte es nach meiner Art machen, denn es ist wichtig, dem Ganzen seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Egal, ich mag ’ne Menge Musik, Cajun, Cowboylieder, Funk und Blues. Hauptsache, es paßt zusammen. Das ist alles roots music – und dies ist eben der Schlüssel, denke ich.

Hinternet: Du spielst so viele verschiedene Formen und Stile von Musik. Interessierst Du Dich überhaupt noch für aktuelle Rockmusik? Was hören denn so Deine vier Kinder? Und wie gehst Du mit ihren musikalischen Vorlieben um?

Jagger: Ich hör‘ nicht viel Rockmusik. Ich finde elektrische Gitarren ziemlich langweilig. Ich mag Fiddle und Akkordeon und andere Instrumente als Grundlage. Ich kenne all diese guitar licks, die ich brauche, zur Genüge, obwohl ich immer noch liebe, was Ed Deane bei gemeinsamen Gigs so macht. Tja, die Kinder hören so Rap-Zeug, was mich aber ziemlich kalt läßt. Der älteste mag Blues und Funk, und am meisten mögen sie Reggae, weil Jungle daraus entstanden ist.

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