Donna Tartt: Der kleine Freund

„Der kleine Freund“ beginnt mit dem schrecklichen Mord an einem Kind: Der neunjährige Robin wird erhängt im Garten gefunden und obwohl seine Familie in greifbarer Nähe war, hat niemand den Mord bemerkt. Rund elf Jahre später ist der Mörder oder die Mörderin noch immer auf freiem Fuß und Robins kleine Schwester Harriet ist besessen von der Idee, den Mörder ihres Bruders zu finden. Als sie einen Verdächtigen ausgemacht hat, bereitet sie mit kindlicher Sturheit und Akribie ihre Rache vor.

Sechs Jahre hat sich Donna Tartt Zeit gelassen, um mit ihrem zweiten Werk zu beweisen, dass „Die geheime Geschichte“ kein Zufallstreffer war. Fest steht, auch bei „Der kleine Freund“ muss man sich davor hüten, den Begriff „Krimiautorin“ in den Mund zu nehmen. In Donna Tartts Büchern geht es nicht um die Suche eines Mörders oder eine klar skizzierte Handlung, die in einem Showdown endet. Tartt legt ihre Geschichten um die Menschen aus und seziert lustvoll die Seelen ihrer Protagonisten. Mit der elfjährigen Harriet ist ihr eine wunderbare Figur gelungen, die mit ihrer kindlich altklugen Art ihre Umwelt irritiert und alle Energie in ihren heimlichen Rachefeldzug steckt. Gemeinsam mit ihrem hibbeligen Freund Hely sind die beiden Kinder die tragenden Säulen einer Familientragödie im sumpfigen Süden der USA.

Dabei behandelt Donna Tartt ihre beiden Hauptfiguren behutsam und begeht nicht den Fehler, sie als drollige, kleine Erwachsene zu stilisieren oder einen Tom Sawyer Nachfolger zu schreiben. Die eigensinnige Harriet folgt ihren eigenen Gesetzen und treibt den wohlbehüteten Hely in eine Abenteuergeschichte, aus der es scheinbar kein Entrinnen mehr gibt. Zu düster ist die Welt der Kleinkriminellen und Drogenabhängigen, in die Harriet sich begibt, um den Mord an ihrem Bruder zu rächen.

Nach dem grausamen Prolog beginnt Donna Tartt ihr neues Buch eigentlich recht vergnüglich, um im weiteren Verlauf zu beweisen, warum sie für ihr Debüt „Die geheime Geschichte“ mit Lob überhäuft wurde. „Der kleine Freund“ lebt von einer konstanten Hoffnungslosigkeit, die den Leser schrittweise umfängt und den nicht vorhandenen Spannungsbogen keine Sekunde vermissen lässt. Hin und wieder dreht sie zwar die Spannungsschraube etwas an, ignoriert aber weitestgehend die Gesetze eines normalen Spannungsromans. Man kann es Donna Tartt nicht hoch genug anrechnen, dass sie nicht mal ansatzweise versucht, Elemente ihres Erstlings zu adaptieren. „Der kleine Freund“ ist eine schleichende, atemberaubende Tragödie und ohne Zweifel eines der besten Bücher, das ich seit langem gelesen habe.


Donna Tartt
Der kleine Freund
Goldmann
VÖ: 13.2.2004

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