
Neben der Erzählperspektive sind es natürlich die „sprechenden Personen“, die den Stil eines Romans bestimmen. Man wird einen sechzehnjährigen Schüler des begonnenen 21. Jahrhunderts kaum „Mich dünkt, ich habe mich in Sie verliebt, Mademoiselle!“ ausjauchzen lassen, und ein wohlbestallter Professor wird nicht mit „Hassema ne Fluppe, Mann?“ den Smalltalk auf einer Party beginnen.
Darüber müssen wir keine weiteren Worte verlieren, und auch der Umstand, dass in unserem Roman ja ALLE Personen irgendwann einmal „Ich“ sagen und reden / denken sollen, bedarf kaum weiterer Erklärung. Natürlich gilt auch hier der Grundsatz: Lass die Leute reden und denken, wie sie es auch im wirklichen Leben tun. Abweichungen von dieser Regel sind möglich, müssen aber aus der Handlung und Personenzeichnung heraus logisch sein. Ich könnte mir durchaus vorstellen, den oben erwähnten Sechzehnjährigen wie einen Gymnasiasten des ausgehenden 18. Jahrhunderts schmachten zu lassen, wenn ich etwas überzeichnen will oder darauf hinweisen, der Knabe lebe in einer anderen Realität als seine Art- und Altersgenossen.
Das Personal also. Jetzt, spätestens, müssten wir uns eigentlich um die Handlung kümmern. Aber nichts da. Bei der Auswahl unserer Helden und Heldinnen orientieren wir uns zunächst an ihrer dramaturgischen Relevanz. Will sagen: Wir überlegen, welcher Charakter zu wem passt, wo wir Konflikte schön herausarbeiten können, wie hoch die Fallhöhe der einzelnen „Ich“-Passagen sein kann etc.
Als ich mir darüber nun so meine Gedanken machte, fiel mir auf, dass es bei den fünf Personen, die ursprünglich vorgesehen waren, ja nicht bleibt. Wir haben noch eine sechste: den Erzähler, von dem aus die Kamera allmählich zu den Personen und in ihre Gedanken hinein zoomen wird.
Diese auch „auktoriale Instanz“ genannte Person könnte anonym bleiben. Ein nüchterner Berichterstatter vielleicht, eine Un-Person. Während ich dies in Erwägung zog, kam mir eine Idee. Was, wenn dieser Erzähler eine der fünf Personen wäre? Jemand, der die Ereignisse quasi aus einer gewissen zeitlichen Distanz reportiert?
Nun war ich, ob ich wollte oder nicht (ich wollte natürlich) doch dort, wo ich eigentlich nicht sein durfte: bei der Handlung. Wir wissen von ihr bisher ja nur, dass am Ende des Romans ein Mord geschehen wird, und dass die Aufklärung nicht auf dem üblichen Wege erfolgen soll. Der Leser soll selbst anhand des Beschriebenen herausfinden, wer denn das böse Element verkörpert und warum die Tat geschah.
Wenn ich jetzt eine der fünf Personen, die im Wartehäuschen am Bahnhof sitzen, auswähle, dann könnte das gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen:
1. der Er-Zähler ist selbst betroffen. Er (oder sie? Lassen wir das zunächst offen) erinnert sich. Seine Sprache ist demzufolge nicht neutral, nüchtern.
2. Als Betroffener kann der Erzähler Zusatzinformationen liefern, wie es die nüchterne auktoriale Instanz kaum tun könnte. Viele Dinge sehen im Nachhinein anders aus als zum Zeitpunkt ihres Ablaufs.
3. Und das ist der Clou: Unser Erzähler selbst ist der Mörder.
Bis zu diesem Moment habe ich wirklich noch keinen Schimmer, wer diese erzählende Person sein wird. Das sowie die Charakteristika der fünf Handelnden ist nun tatsächlich etwas, zu dem man wenigstens den Hauptplot der Story kennen muss.
Folgendes nur weiß ich jetzt schon über das Personal: Sie werden so reden und denken, wie sie natürlicherweise reden und denken würden, befänden sie sich im „wirklichen Leben“. Ihr Denken soll nicht nur die Gegenwart reflektieren, sondern auch die Vergangenheit, die wiederum auf das Zentrum eines ungewöhnlichen Ereignisses zusammenzurren soll, das zum Anlass des Verbrechens wird.
Das heißt auch: Alle Fünf sollten in irgendeiner Weise in dieses außergewöhnliche Ereignis involviert sein. Zwischen ihnen sollte es Rivalitäten, aber auch Bündnisse geben. Auch scheint es mir sinnvoll, eine gewisse Fallhöhe zu gewährleisten, die sich in Sprechen und Denken manifestiert. Wir wollen also nicht fünf Universitätsprofessoren in unser Wartehäuschen sperren, aber auch nicht gerade fünf sechszehnjährige Gymnasiasten.
Der Erzähler verkörpert in diesem Ebenenkonstrukt so etwas wie die Gegenwart (also wird er auch im Präsens erzählen), der „die nahe Vergangenheit“, jene Stunde im Wartehäuschen, berichtet, in der sich fünf Personen an die „entferntere Vergangenheit“ erinnern.
Was wir nun brauchen, ist wenigstens eine IDEE von Handlung, und zwar zunächst von der aus der „entfernteren Vergangenheit“. Dazu mehr nächstes Mal.