Man handelt Fred Vargas als die Krimiautorin, die den Gordischen Knoten der Authentizität, der „nachvollziehbaren Logik“ mit einem Schlag aufgelöst hat – durch die Einführung eines eigenen Koordinatensystems. Seither schreibt sie Polizeiromane, in denen Polizisten agieren, wie Polizisten nirgendwo auf der Welt agieren, Kommissare kombinieren wie sonst nur Insassen von Nervenheilanstalten. „Magischer Realismus“ heißt das und bedeutet: von Wirklichkeit keine Spur. „Die Dritte Jungfrau“ ist, vielleicht mehr noch als der Vorgängerroman „Der vierzehnte Stein“, ein solches scheinbar abseits der Ratio angelegtes Werk. Verstehen wird es aber nur, wer die Wirklichkeit im Auge behält.
Die Wirklichkeit, das sind immer die Verbrechen. Zwei Kleinkriminelle findet man erstochen auf, Dealer, ein Fall fürs Rauschgiftdezernat, doch Adamsberg, der Kommissar zeigt sich störrisch, das ist sein Fall. Warum? Die Toten haben Spuren von Erde unter den Fingernägeln. Klingt logisch, doch die Art, wie Adamsberg und seine Brigade nun zu Werke gehen, ist es eben nicht.
Schon dass Adamsberg sich ein Haus gekauft hat, in dem der nicht zur Ruhe kommende Geist einer mörderischen Nonne spuckt, was wiederum von einem Nachbarn bezeugt wird, der im Spanischen Bürgerkrieg einen Arm verloren hat, der ihn immer noch juckt, weil er auch in dem Moment des Verlustes gejuckt hat, ist eigentlich schon übersinnlich genug. Außerdem ist Adamsberg Vater geworden. Die Mutter des Kindes ist Musikerin, tritt sie irgendwo auf, reist Adamsberg mit und spielt den Babysitter. Einmal in der Normandie. Adamsberg in der Dorfkneipe, dort drei merkwürdige Männer, die sich über ein abscheuliches Verbrechen unterhalten, ein stolzer Hirsch, der abgeschlachtet wurde, dem man das Herz aus dem Leib gerissen hat.
Natürlich ahnt Adamsberg sofort die Verbindung zwischen totem Hirsch und toten Kleindealern, auch die Spur der letzteren führt in die Gegend des normannischen Dorfes, dort nämlich sind die frischen Gräber von Jungfrauen in den Dreißigern geöffnet worden, daher der Dreck unter den Fingernägeln, aber entwendet, beschädigt wurde scheinbar nichts. Merkwürdig.
Merkwürdig auch der Neue in der Brigade, Veyrenc. Er stammt wie Adamsberg aus dem Pyrenäen, einem Seitental, das mit dem Adamsbergs immer in Fehde gelebt hat. Veyrenc hat einen Tick, er neigt dazu, à la Racine in zwölf Versfüßen zu reden. Und ein Trauma hat er auch. Als Kind haben ihn fünf Burschen aus Adamsbergs Tal übel zugerichtet, vier von ihnen hat er erkannt, den fünften nicht, aber wir wissen natürlich, wer das ist. Jetzt ist Veyrenc, der doch etwas zu ahnen scheint, hier um sich zu rächen. Oder nicht?
Das übrige Personal kennen wir schon. Danglard, den Alleswisser und Hassfreund des Kommissars, die unvergleichliche Retancourt, die ihre Energien bündeln und beliebig einsetzen kann. Und all die Nebenfiguren, die Servilen, die Aufmüpfigen, die Schläfrigen, die Naschhaften.
Wer hinter den Verbrechen steckt, Adamsberg wie einen Schatten zu verfolgen scheint, ergibt sich rasch: eine 75jährige Krankenschwester ists, Massenmörderin, im Vergleich zum bösen Richter aus „Der vierzehnte Stein“ also geradezu eine juvenile Erscheinung. Sie ist eine „Dissoziierte“, wie die freundliche Pathologin, mit der Adamsberg gerne ein amouröses Abenteuer hätte, erklärt. Sie muss es wissen, sie hat ein Buch darüber geschrieben, „Zu beiden Seiten der Wand des Verbrechens“, es geht also um das beliebte Thema der gespaltenen, um nicht zu sagen der „multiplen“ Persönlichkeit, beliebt vorzüglich in Kriminalromanen, wo man sich so sehr um Logik kümmern mag. Aber Achtung: Wohl wird Adamsberg am Ende den Verdacht äußern, sie seien ja alle irgendwie dissoziiert, aber diese Fährte ist eine falsche. Die Logik des Normalen und die Logik des Abseitigen (des „Wolkenschaufelns“, wie es Adamsberg selbst nennt) sind nicht von einander getrennt, sie sind Mixturen, wie es denn in diesem Roman vor allem um Mischungen geht. Auch die Motive des Bösen haben mit Mixturen und Mischungen zu tun, alle Taten (Jungfrauenmorde, Grabschändungen, Hirschmassaker, Reliquienraub, Katerentmannung) zielen darauf ab.
Nein, „Die dritte Jungfrau“ ist eben doch kein in sich geschlossenes logisches und poetisches Koordinatensystem, in dem man dank Wolkenschaufeln die Dinge zurechtrücken kann. Denn übergangslos versuchen sich Adamsberg und die Brigade in der Anwendung „normaler Logik“, sie kombinieren dann wie Sherlock Holmes, sezieren wie nüchterne Wissenschaftler, entwerfen Theorien, verwerfen sie wieder. Aber diese Logik ist halt nicht zu denken ohne die andere, die man intuitiv oder anarchisch oder poetisch nennen könnte. Und beide, als Mischung, werden zum Schluss als gesteuert entlarvt, über allem nämlich thront das Böse und zieht seine Fäden, an denen die Handelnden wie Marionetten hängen re-agieren müssen.
So ist das Ende von „Die dritte Jungfrau“ ein mit den Mitteln der uns gebräuchlichen Logik herbeigeführtes, der Fall wird aufgeklärt, so wie jeder Kriminalfall jedes xbeliebigen Autors aufgeklärt werden würde. Fakten, Fakten, Fakten. Fred Vargas indes hat uns gezeigt, dass diese faktische Wirklichkeit immer von der irrealen durchdrungen ist, unsere Schlüsse, unsere Interpretationen von Welt nichts weiter sind als das dünne Häutchen der Vernunft auf einer brodelnden Flüssigkeit ohne feste Kontur. Das Dissoziierte als menschlicher Naturzustand, gewissermaßen.
So gesehen, sind die Romane der Vargas in einer Weise „authentisch“, gegen die die Authentizität der Fakten, der qua Dienstanweisung geregelten Abläufe nichts weiter sein kann als ein willkürliches Kunstprodukt.
Fred Vargas ist ein Glücksfall für die Kriminalliteratur. Nicht nur, dass sie es versteht, Atmosphäre zu schaffen. Man fühlt sich, während man liest, immer wie in einem geschlossenen Kasten, der aber in der Wirklichkeit steht und mit ihr kommuniziert. Die Stimmung ist dunkel, das Wetter in der Vargas-Welt irgendwie regnerisch-düster, selbst wenn die Sonne scheint. Nein, der eigentliche Glücksfall scheint mir darin zu liegen, dass Vargas ein unendlich komplexes Thema – was ist Wirklichkeit, was ist Logik, was ist Vernunft? – als spannende, nicht selten auch komische Literatur unter die Leute bringt. Großartig.
Fred Vargas: Die dritte Jungfrau.
AufbauVerlag 2007
(Original: „Dans les bois éternels“, 2006, deutsch von Julia Schoch).
474 Seiten. 19,95 €