1978. Ein Jahr und seine 20 Songs

Wie hieß der Chic-Hit „Le Freak“ ursprünglich? Und wem war er gewidmet? Wo hat sich John Travolta den Tanzstil für „Saturday Night Fever“ abgeguckt? Wer sang „I will survive“ auf Deutsch? Wie war Patti Smith beim Rockpalast-Auftritt drauf? Und wer hat ein ganzes Synthiepop-Album mit Rockklassikern eingespielt?All dies: Wissen zur Musik des Jahres 1978 – mitgeteilt in einem stylischen Büchlein mit minimalistischem Cover. Die CD zum Jahr steckt auf der letzten Seite. Und wer auf das „Lied der Schlümpfe“, Boney M. oder Amanda Lear hofft, der wartet vergebens. Die Schlagworte heißen zwar unter anderem Disco und Pop – aber eben auch Punk, Latin, Soul und Independent. Singer-Songwriter haben hier ihren Platz. Selbst afrikanischer Highlife ist drauf.

Also gibt´s zum Beispiel Gitarrenpop-Klänge von Wire, The Jam, The Only Ones, den Ramones und den Buzzcocks. Blondie sind mit „Denis“ dabei, die Brasilianerin Alcione mit einem Samba, Nina Hagen und die durchgeknallten Frauen-Punks von X-Ray Spex.

Ach ja, Punk: der gilt hier schon als in den letzten Zügen liegend. Deshalb gibt´s eines der letzten Interviews der Sex Pistols zu lesen. Sid Vicious und Johnny Rotten, die versuchen geistreich und witzig zu sein. Kommen etwas gekünstelt rüber, aber wenigstens erfährt man, wie sehr sie Freddy Mercury hassen. Sagen sie zumindest.

Für Disco, Soul und Funk sind – natürlich – The Chic zuständig. Außerdem Linda Clifford, Lew Kirton, Gloria Gaynor und Marvin Gaye. Die Singer-Songwriter sind Patti Smith und Warren Zevon. Die afrikanischen Highlifer heißen Sweet Talks.

Aber nicht nur Musik steckt in dem Büchlein drin. Auch Kluges und Erhellendes über das, was in und hinter der Musik steckte. Was in der Luft lag. Dass Disco alles andere als herrschaftsstabilisierender Eskapismus war. Dass sie als Musik der Schwulen und Schwarzen aus dem Ghetto kam. Und der Leistungsgesellschaft den klassenlosen Körperkult provozierend entgegenhielt.

Auch der arrogante Punk bekommt sein Fett weg: aus der Mittelklasse kommend, setzte er die Maske der Gosse auf. Und machte es mit seinem rigiden Regelwerk schwer, Melodien und Virtuosität zuzulassen. Einige der Bands, die es trotzdem wagten, sind hier zu hören.

Viel davon findet sich in dem lesenswerten Essay von Philipp Oehmke – in dem zum Beispiel John Travolta outet, dass Tony Maneros Tanzstil aus dem TV abgeguckt war. Eine originelle Fotostrecke lässt Stars, Stylings, politische Ereignisse, aber auch Eckart Witzigmanns Kreationen der Saison Revue passieren. Und zu jedem Song der CD gibt´s außerdem einen kleinen Text plus Coverfoto. Die Texte sind so unterschiedlich wie ihre Autoren und das eigentliche Juwel dieses Buches.

Sie erklären zum Beispiel, wie The Chic mit minimalem Aufwand maximale Spannung erzielten. Sie erzählen, wie bei Gloria Gaynor aus Soul Disco wurde. Dass The Only Ones ihre Instrumente beherrschten und deshalb vom Underground verspottet wurden. Und wie Produzent Norman Whitfield die Tanzboden-Mäuse schockte, in dem er die Rose Royce-Ballade „Love don´t live here anymore“ einfach bis zum Ende Ballade sein ließ. Oder dass Nina Hagen ihr Punk-Etikett eigentlich zu Unrecht trug: jedenfalls war das schrill-schöne „Unbeschreiblich weiblich“ in der Tat vor allem gut gemachter Pop.

Lesend hört man die Songs und kann selbst urteilen. Spielen die Ramones wirklich nur „drei Akkorde“ in „wahnwitzigem Tempo“? Warum kann man „Warm leatherette“ von The Normal nicht wirklich als Song bezeichnen? Übrigens: dies ist eins der kleinen Song-Schmankerl auf der CD. Der krude Synthie-Klassiker eines gewissen Daniel Miller, der als Gründer des Labels Mute in die Popgeschichte eingeht! Aufregend auch die Dancefloor-Seltenheit „Elle et moi“ von Max Berlin.

Denn das ist das eigentliche, merkwürdige Verdienst dieses CD-Buches: vollkommen selektiv versucht es einerseits die aufregendsten, andererseits aber auch die repräsentativen und innovativen Seiten des Jahres ´78 abzubilden. Es ermöglicht, sich völlig reinfallen zu lassen in die Stimmung von damals. Und die Songs zu hören, als seien sie neu – dank der Kontext-Erklärungen in den Texten. Mal wieder ein schöner Beweis für die Tatsache, dass nur eine Sache schöner ist als naives Hören: wissendes Hören.

Einziges Manko: nicht alle Texte zu den Songs sind wirklich gelungen. Warum nicht wenigstens versuchen zu erklären, worin die Faszination von Blondie lag? Selbst ihre Widersprüche lassen sich benennen, wenn man es möchte. Und dass Blondie als eine der ersten eine Rap-Passage in einem Popsong benutzten, wäre interessanter zu erzählen als das, was eh jeder weiß: dass Debbie Harry als szenig wirkender Star berühmt ist und dass Blondie vor ein paar Jahren noch mal einen Nummer 1 Hit hatten. Aber solche Stellen sind selten – und im Zweifelsfall immer noch dem Mut zu verdanken, die Song-Erläuterungen völlig subjektiv und uneinheitlich blühen zu lassen.

Nicht zu vergessen: Jeder Song-Text schließt mit einer kleinen Empfehlung zum Weiterhören. Mit Hinweisen auf andere aufregende Lieder der Interpreten. Oder auf die entsprechenden Best Ofs. Auf die Rock´n´Roll-Klassiker im Synthie-Gewand (der Silicon Teens alias Daniel Miller), auf Remix-Platten, unbekannte Originale, Klassiker oder einfach unnützes Wissen. Die deutsche Version von „I will survive“ hieß „Ich überleb´s“. Von Dunja Raiter. Nimmt man gern mit auf der Klang-Text-Reise durch´s Jahr 1978. Wunderbar, Danke!

P.S.: Dies ist der Start einer 50teiligen Reihe der Süddeutschen Zeitung, in der – in kunterbunter Reihenfolge – die Jahre von 1955 bis 2004 abgehandelt werden.
Mehr Infos: → SZ Diskothek.

1978: Ein Jahr und seine 20 Songs
Süddeutsche Zeitung

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