Frank Göhre: I and I

goehre.jpgManchmal ist es eine gute Idee, all die Zerstreutheiten zu sichten, die sich im Laufe einer Schriftstellerexistenz so ansammeln. Die kleinen Auftragsarbeiten, Rezensionen und Reiseberichte, die Vor- und Nachworte für die Werke von Kollegen. Nostalgischen Wert hat das ja durchaus, jedenfalls für den Autor. Nicht immer ist es eine gute Idee, eine Auswahl der gelungensten Petitessen zu veröffentlichen. Genau das hat Frank Göhre getan und man stellt fest: Es war eine verdammt gute Idee.

Frank Göhre gilt – für diejenigen, die es überraschenderweise noch nicht wissen – als der Chronist deutscher Halb- und Unterwelt. Das mag jetzt arg verkürzt sein, aber die Zukurzgekommenen, die Gescheiterten und Verirrten, die durch das Raster Gefallenen oder diejenigen, die es immer wieder schaffen, sich selbst durch jedes Raster zu drücken, das ist schon so etwas wie das Personal nicht nur der Romane, sondern auch der im Band „I and I“ versammelten Aufsätze und Reportagen.
Es beginnt gleich fulminant mit einer Hommage an Hubert Fichte, auch so ein Chronist und Göhre’scher Wahlverwandter, Hubert Fichte, wie er in „sein“ Hamburg zurückkommt und die Stadt nicht mehr erkennt, wie er ausgeschrieben ist und Abschied nimmt. Einer von den „vergessenen Autoren“, die Göhre versammelt, wobei dieses Vergessensein relativ ist und häufig, wie bei Fichte, den Veränderungen geschuldet, dem berüchtigten Zeitgeist oder den Launen des Feuilletons. Als notwendige Erinnerung jedenfalls ist Göhres Aufsatz lobenswert, zumal man hier schon die Stärken des Bandes und seines Autors besichtigen kann. Empathie ohne Schmu, Stichworthaftes, das den Kern der Sache berührt, den Leser nicht routiniert journalistisch abfüttert, ihn vielmehr dichterisch anregt. Dieses Verfahren hält Göhre auch in den Aufsätzen über Jean-Pierre Melville, Ernest Tidyman, James Crumley, Daniel Woodrell und David Osborn durch, wobei die letztgenannten beiden gerade eine bescheidene publizistische Renaissance zu erleben scheinen. Göhre baut vor, dass sie nicht im Flüchtigen des Augenblicks verbleibt.
Ein zweiter Schwerpunkt sind Göhres Reisereportagen, Trips nach Jamaika und Amsterdam, und die Bezeichnung „Trips“ trifft es dabei in jeder Hinsicht. Hier befindet sich Göhre auf seinem Gebiet, bei den Kiffern und Rumtreibern, im Halbseidenen und Ungefähren verstrickt, immer auf der erfolgreichen Suche nach den Charakteren hinter den bloßen Klischees.
Komplettiert wird der Band durch einige Kleinporträts von Tätern und Opfern, Großschnauzen und der jugendlichen Heldin des Films „Liane, Heldin aus dem Urwald“, jener legendären Tarzanlolita der Fünfziger Jahre. Auch eine persönliche Erinnerung; ich habe den Film nie gesehen, als Vorpubertierender nur die „Vorschauen“, was mir aber einen lebhaften Eindruck von kommenden Freuden vermittelte.
Der Band endet mit einer Collage aus Programminformationen zu einem Sendetag des Bayrischen Rundfunks und Aussagen des zuständigen Intendanten, der einmal Pressesprecher von Angela Merkel war. Und das genügt ebenfalls, man muss den gesamten Film „Deutschland aktuell“ gar nicht sehen, um sofort aus dem Kino rennen zu wollen.
Klar, in einer avancierten Lesart versammelt Göhre hier auch den Stoff, aus dem er für seine Kriminalromane schöpft. Eindrücke, Anregungen, Milieustudien – aber diese kleinen Arbeiten behaupten durchaus ihre Eigenständigkeit, sie sind ein Plädoyer für das Leben jenseits des Geschliffenen und Lackierten. Wäre eine gute Idee, Frank Göhre würde seinen Fundus demnächst wieder inspizieren.

Frank Göhre: I and I. Stories und Reportagen. 
Pendragon 2012. 197 Seiten. 10,95 €

Ein Gedanke zu „Frank Göhre: I and I“

  1. Nett, der Titel — I and I, Rastafarian English for „we“.
    Dir ist ja klar, dass ich von etwa 1983 bis so um 1994 der mittelkalifornische RadioRasta war? „Heartbeat Reggae“ with Peter Kraus?

    Cool, mon.
    Ras Pete

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